Buchtipp zum Holocaust-Gedenktag Bist du eine Romni?

Ein Roma-Mädchen tarnt sich im KZ als Jüdin und fühlt sich anschließend fremd vor sich selbst: Majgull Axelssons beklemmend aktueller Roman „Ich heiße nicht Miriam“.

 Ein Mahnmal am Berliner Reichstag erinnert an den „Porajmos“, das „Verschlingen“: So nennen die Sinti und Roma in ihrer Sprache den Völkermord an jenen Menschen, die im Herrschaftsbereich der Nazis als „Zigeuner“ erst diskriminiert, dann verfolgt, dann getötet wurden

Ein Mahnmal am Berliner Reichstag erinnert an den „Porajmos“, das „Verschlingen“: So nennen die Sinti und Roma in ihrer Sprache den Völkermord an jenen Menschen, die im Herrschaftsbereich der Nazis als „Zigeuner“ erst diskriminiert, dann verfolgt, dann getötet wurden

Foto: picture alliance / dpa

"Niemand ist heutzutage noch besonders hungrig in Nässjö, nicht einmal Vögel und Ratten. Hier gibt es genug zu essen für alle. Trotzdem träumt Miriam vom Hunger. Seit sechzig Jahren versteckt sie sich in dieser Stadt.“ Miriam soll ihren 85. Geburtstag feiern; Sohn, Schwiegertochter und Enkelin sind gekommen. Ihr Geschenk: ein Silberarmband mit den eingravierten Worten „Für Miriam“. Und plötzlich sagt die Beschenkte: „Ich heiße nicht Miriam.“

Die schockierte Familie geht über den merkwürdigen Satz dezent hinweg, denkt an die Wunderlichkeit des Alters, gar an Demenz. Nur Miriams Enkelin interessiert sich für die Zusammenhänge. Sie weiß, dass Miriam vor Jahrzehnten dem KZ entronnen ist. Aber sie kennt nicht die ganze Geschichte; niemand kennt sie.

Bei einem langen Spaziergang erzählt die alte Frau der jungen ihr Leben: Das Geschehen wechselt zwischen den stillen Gesprächen im Park der schwedischen Provinzstadt und den furchtbaren Erinnerungen, die sich nur ganz langsam, in Sprüngen über das Buch verteilt, zum Ganzen verdichten.

Da zerreißt die Polizei in Nazideutschland die Familie des Roma-Mädchens Malika. Die Kinder kommen erst in ein Heim und werden dann deportiert – nach Auschwitz. Malikas Schwester wird dort schon am ersten Tag erschossen: Sie hat sich geweigert, sich zur „Entlausung“ nackt auszuziehen. Auch Malikas Bruder stirbt unter Qualen: Der Morddoktor Josef Mengele hat ihn mit Noma infiziert – einer Krankheit, bei der Bakterien das Gesicht von innen her zersetzen, bis Zähne und Knochen freiliegen.

Später werden einige Häftlinge ins Frauen-KZ Ravensbrück verlegt. Malika hat für den Transport ein kleines Stück Brot verstecken können – die anderen Frauen merken das, es kommt zum Handgemenge, Malikas Kleid zerreißt. Sie weiß: Wer Lagerkleidung beschädigt, wird totgeprügelt. Ganz schnell braucht sie eine neue Jacke – und stiehlt die einer toten Mitgefangenen. Mit deren Häftlingsnummer im Stoff hat sie auch die Identität der Toten angenommen: Sie ist jetzt „Miriam Goldberg“.

Dann geschieht ein Wunder: Miriam darf nach Schweden ausreisen – an Bord der „Weißen Busse“, eines Rotkreuz-Hilfskonvois, genehmigt von Heinrich Himmler persönlich, der sich als Verhandlungspartner bei den Westmächten andienen will. Doch das Asyl gilt nur für Juden, nicht für „Zigeuner“ – wird Malika enttarnt, droht ihr die sofortige Ausweisung. Also setzt sie sich krasse Regeln. Sich anpassen! Nicht auffallen! Niemandem Probleme bereiten! Nicht der hilfsbereiten Frau, bei der sie als Haushaltshilfe wohnt. Nicht dem jungen Witwer, den sie heiratet. Nicht dessen Sohn, der zu ihrem wird.

So wird Miriam eine gesittete schwedische Bürgerin und hat dennoch jahrzehntelang das Gefühl, ihre Seele verraten zu haben. Nur einen Satz aus der Roma-Sprache hat sie sich (zur Mahnung?) bewahrt. „Romengi san?“ (Bist du eine Romni?). Bisweilen rutscht er ihr heraus, wenn sie zufällig Angehörigen des Volkes begegnet, das sie verlassen zu haben glaubt. Miriam hat Angst davor. Auch, weil sie um den nicht immer verborgenen Hass der Schweden auf die „Tatern“ weiß, das „Zigeunerpack“.

Majgull Axelssons Buch fesselt den Leser nicht einfach; es kettet ihn fest. Es verlangt mehrmals gelesen zu werden, will man alle Geschichten darin komplett erfassen. Genau deshalb ist es auch ein beklemmend aktuelles Buch – es geht nicht allein um Roma oder Juden, Deutsche oder Schweden. Es geht auch um den Kontrast zwischen der Gewalt und den kleinen Momenten der Menschlichkeit, die es sogar im KZ geben konnte. Es geht um den Kontrast zwischen der Welt des Hasses und der des Wohlstands: Er ist so groß, dass er den Neuankömmling in den Wahnsinn treiben kann.

Es geht in Axelssons Buch aber auch darum, wie schwer es Wohlstandsbürgern fällt, diesen Kontrast auch nur zu sehen. Darum, dass auch Rassismus-Opfer Rassisten sein können (wenn Juden selbst im KZ auf „Zigeuner“ verächtlich herabblicken). Oder um das küchenfeministische Vorurteil, „dass Frauen weniger zur Gewalt neigen“: Wer das glaubt, vertiefe sich in Axelssons Beschreibungen der KZ-Aufseherinnen oder der alltäglichen Gemeinheiten der Frauen in Ravensbrück untereinander.

Beklemmend aktuell schließlich auch, dass Miriam sagt: „Man muss sich immer vor jungen Männern in Gruppen hüten“. Sie meint keine Nazis, keine Marokkaner, sie meint schwedische Fußballfans.

Von wem die allmenschliche Gewalt kommt, ist letztlich egal. Egal auch, welchem Volk ein Mensch auf der Flucht angehört und vor welchem Horror er flieht. Da gibt es keine einfachen Lösungen – nicht für den Fliehenden, nicht für die Menschen, zu denen er kommt. Aus einfachen Lösungen erwächst nur großes Morden. Die Roma nennen es „Porajmos“: Verschlingen.

Majgull Axelsson: Ich heiße nicht Miriam. List, 571 S., 20 Euro

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