Zuschauer sollen eigene Antworten finden Ben Beckers Solo "Ich, Judas" in der Bonner Oper

BONN · Ben Becker gastiert am 24. September mit seinem Solostück „Ich, Judas“ im Bonner Opernhaus. Die Inszenierung meldet Zweifel an der überlieferten Schuld des Apostels an und fordert die Zuschauer dazu auf, eigene Antworten zu finden.

 Der Schauspieler Ben Becker gibt Judas Ischariot auf der Bühne eine Stimme und zieht das Bild des Verräters in Zweifel

Der Schauspieler Ben Becker gibt Judas Ischariot auf der Bühne eine Stimme und zieht das Bild des Verräters in Zweifel

Foto: Maxim Brinckmann

Die Geschichte scheint zunächst simpel, schnell zu erzählen – so wie Generationen von Schulkindern sie im Religionsunterricht gehört haben: Judas Ischariot, einer der zwölf Jünger, führt die jüdische Tempelwache zum Aufenthaltsort Jesu im Garten Getsemani und identifiziert ihn vor ihren Augen durch einen Kuss. Sein Lohn dafür? 30 Silberlinge. Die Konsequenz? Die Passion Christi – von der Auslieferung an die Römer bis zur Kreuzigung auf dem Berg Golgota. Der Verrat an und für sich – die Heimtücke gegenüber einem Vertrauten und Freund – tragen seither seinen Namen. Sie haben einen Preis und ein Symbol.

Hier könnte die Geschichte enden, wären nicht im Laufe der Jahrhunderte Zweifel an der Darstellung des Judas in allen vier Evangelien – vor allem dem des Johannes – aufgekommen. Zweifel an der Gottlosigkeit und Verdammungswürdigkeit seiner Tat, seiner Person und seines Namens. Gedanken darüber, ob sich sein Handeln womöglich nicht auch ganz anders deuten lasse.

Gedanken, die den Literaturhistoriker, Schriftsteller und Rhetorikprofessor Walter Jens (1923-2013) beschäftigt und 1975 Eingang in seinen Roman „Der Fall Judas“ sowie später auch in den Monolog „Ich, ein Jud. Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ gefunden haben. Der Text findet sich in dem 1994 veröffentlichten Band „Zeichen des Kreuzes. Vier Monologe“, der auch „Jesu sieben letzte Worte am Kreuz“; Pilatus – „Ich nehme das Urteil an“ und „Simon – Fels unter den Päpsten“ enthält.

John von Düffel half bei der Vorbereitung

Walter Jens eloquente Bemühungen um eine Rehabilitation des Verräters schlechthin wurde 2015 von dem Schauspieler Ben Becker als Hörbuch eingesprochen. „Das war damals sozusagen eine Auftragsarbeit“, erinnert er sich beim Gespräch mit dem General-Anzeiger. Herangetragen an einen Schauspieler, der schon 2008 mit seinen Bibellesungen zu Musik von Johnny Cash, Elvis Presley, und Gustav Mahler von sich hatte reden lassen. Eine Empfehlung, zweifellos.

So wie seine oftmals außergewöhnliche und gern auch unorthodoxe Herangehensweise an Stoffe, die von anderen Kollegen vielleicht als zu schwere Kost abgelehnt werden würden. Für Ben Becker – gewiss niemand, der sich in seinem Beruf mit leicht Verdaulichem begnügen würde – ist der Judas zwar eher eine intellektuelle denn eine religiöse Herausforderung. Losgelassen hat sie ihn aber so oder so nicht mehr – auch als die Hörbuch-CD schon in den Regalen der Buchhandlungen auslag.

„Ich wollte das unbedingt auf die Bühne bringen“, sagt er. Und dieses „Unbedingt“ ist auch heute noch gut zu hören. Zur Vorbereitung wandte Becker sich seinerzeit an John von Düffel: „ein großer Dramaturg am Deutschen Theater“. So wie er auch dem israelischen Schriftsteller Amos Oz großen Respekt zollt und Kapitel 47 aus dessen Roman „Judas“ in das gut zweistündige Programm aufgenommen hat.

120 Seiten werden auswendig gesprochen

Es beginnt (und endet) mit Johann Sebastian Bachs „Fantasie in C-Moll“. Becker zitiert die Verse aus dem Matthäus-Evangelium, in denen Jesus mit den Jüngern in Jerusalem beim Abendmahl sitzt und spricht: „Einer unter euch wird mich verraten.“ Das Urteil des Evangelisten könnte verheerender nicht sein: Judas Ischariot wäre besser nie geboren worden.

Soweit die Anklage. Die Verteidigung liegt nun bei Walter Jens. Dem Judas, dem Ben Becker auf der Bühne – in „unschuldiges“ Weiß gekleidet – eine Stimme gibt. Wenn er gegen die traditionelle Überlieferung wütet, gegen all die Unstimmigkeiten und Halbwahrheiten: „Was war denn zu verraten“, fragt er. „Jesus‘ Aufenthaltsort? Den kannten Tausende. Sein großes Geheimnis, dass er Gottes Sohn sei? Das hat er selbst gesagt, vor allen Leuten!“

All das auswendig gesprochen: 120 Seiten. Ein ambitioniertes Ziel, das er sich gesetzt hat und dem er bislang jedes Mal gerecht geworden ist. Spielend oder manchmal auch sichtbar um Worte ringend. Dass er sich dieses Solo jedes Mal neu erarbeitet – das kann und das soll jeder sehen. „Man muss wach bleiben“, sagt er, „immer wieder neue Türen aufstoßen, Entscheidungen treffen. Einfach etwas abliefern? Das funktioniert hier nicht.“

Fast alle Aufführungen waren ausverkauft

Doch trotzdem oder vielmehr gerade deshalb „ist der Judas ein Programm, das ich sehr liebe“. Vielleicht auch ein Grund, weshalb bislang fast alle Aufführungen seit der Premiere 2015 ausverkauft waren. Ben Becker wundert dies mitnichten: „Judas ist schließlich eine Figur mit Allgemeingültigkeit. Es geht um die Schuldfrage, die in uns allen steckt.“

Und um die Faszination des Bösen? „Ja und Nein“, erwidert Becker. Ja, soweit das in fast jeder Art Theater eine Rolle spiele. „Ich meine, was wäre der Kasperle ohne Krokodil? Aber im Ernst: Walter Jens stellt ja letztlich genau das in Frage. Wie böse ist Judas eigentlich? War er nicht vielmehr der Erfüller eines göttlichen Plans? Ohne Judas kein Kreuz. Ohne Kreuz keine Kirche. Ohne Kirche keine Überlieferung.“

Dieser Theorie folgend hätte Judas also eine notwendige Funktion im Erlösungsgeschehen. Doch während Petrus, der Jesus gleich drei Mal verleugnet, seit biblischen Zeiten als Fels der christlichen Kirche gilt, hat dessen ehemaliger Mitstreiter für seinen Part in der Passionsgeschichte einen hohen Preis zu zahlen. Gnade, Vergebung, Erlösung bleiben ihm versagt – unwiderruflich, auf ewig! Geschieht dies wissentlich und willentlich – im Einverständnis mit Jesus und als eine Art Opfer?

Fragen werden an das Publikum gestellt

Wie tief ist seine Schuld, wenn das, was durch seinen „Verrat“ geschah, genau so bestimmt war? „Es geht um existenzielle Fragen, um wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Wer Lust hat, sich darauf einzulassen, ist herzlich eingeladen.“ Wohlgemerkt außerhalb des Saals und außerhalb der Vorstellung. „Der Judas ist Theaterstück, keine Podiumsdiskussion.“ Wer mag, nutzt es, um sich seine eigenen Gedanken zu machen, um selbst nachzulesen – diese Texte oder darüber hinaus andere.

Ist Judas vielleicht ein Freiheitskämpfer, ein Zelot, gewesen, der sehnsüchtig darauf wartete, dass der Messias hervortreten und das von Gott auserwählte Volk von der verhassten Fremdherrschaft befreien werde? Hat er ihn aus Enttäuschung über dessen Weigerung ausgeliefert – noch immer von der verzweifelten Hoffnung getragen, die Verhaftung Jesu werde zum Aufstand führen?

Das wäre ein mögliche Deutung. Nur ein Modell – aber immerhin um einiges reizvoller als der in Religion, Literatur und Kunst durch Jahrhunderte überlieferte Kanon von Niedertracht und Geldgier, der nicht nur aus Sicht von Walter Jens die eigentlichen, zutiefst menschlichen Motive und Konflikte ausklammert. Und sei es nur um der Sehnsucht willen, einen Schuldigen auszumachen und ihm alles Böse dieser Welt anzudichten.

Solch einfachen Lösungen erteilt Beckers Judas-Programm eine unmissverständliche Absage: „Ich stelle Fragen an das Publikum, ich teile sie mit ihm. Das heißt aber gerade nicht, dass ich die Antworten darauf geben könnte.“ Wer das erwarte, sei an diesem Abend bei ihm falsch.

Die Einladung steht. Übertriebene Sorgen, dass die Zuschauer am Wahlabend in Gedanken noch bei Angela Merkel oder Martin Schulz verharren könnten, macht Ben Becker sich nicht: „Das Licht geht aus und sie sind bei mir.“

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