CD-Tipp Arcade Fire: Neues Album „Everything Now“

Mit ihrem neuen Album „Everything Now“ stehen Arcade Fire am Scheideweg. Die CD erscheint am Freitag

 Régine Chassagne und Win Butler beim Konzert in Köln. FOTO: BRILL

Régine Chassagne und Win Butler beim Konzert in Köln. FOTO: BRILL

Foto: Thomas Brill

Am schönsten sind immer die Geheimtippzeiten. Weißt du noch, damals, als man sich den Bandnamen Arcade Fire zuraunte wie ein Passwort zu unerhörten Musikwelten? Und als alles noch besser wurde, wenn man diesen formatsprengenden Wanderzirkus mit Orgel, Akkordeon und karibischen Voodoo-Einsprengseln dann auf der Bühne sah? Live ist die 2002 gegründete Band aus Montreal immer noch elektrisierend, wie man zuletzt Mitte Juni im Kölner Tanzbrunnen sah. Doch mit dem fünften Album „Everything Now“ stehen die Musiker um den Texaner Win Butler und seine Frau Régine Chassagne am Scheideweg.

Das gilt nicht unbedingt kommerziell, denn der energiegeladene Titelsong ist etwa in Amerika schon mächtig durchgestartet. Kein Wunder, denn hier scheint sich ABBAs „Dancing Queen“ im etwas raueren Rockgewand ebenso gern wie unermüdlich um die eigene Nostalgieachse zu drehen. Überhaupt ist das Album, koproduziert unter anderem von Thomas Bangalter (Daft Punk), eine Art musikalische Modenschau von Glitzerpop über 70er-Jahre-Funk bis zu New Wave.

Wobei die Schere zwischen Melodie und Botschaft oft arg weit aufgeht. Dass „Everything Now“ wie auch „Signs Of Life“ vom öden Stress der digital beschleunigten und sinnentleerten Gegenwart erzählt, ist beiden Songs kaum anzuhören. Gewiss, auch früher legten Arcade Fire bisweilen hymnische Klangteppiche über familiäre wie gesellschaftliche Krisengebiete (etwa in „Intervention“ vom zweiten Album „Neon Bible“). Doch nun wirkt die Zeitkritik unter der Discokugel bisweilen etwas frivol. Immerhin macht „Creature Comfort“ mit treibenden Beats klar, dass es hier in grimmige Gefilde jenseits der Komfortzone geht. So flackern die Stroboskoplichter über jugendlichem Schönheits- und Selbstoptimierungswahn sowie dessen selbstmörderischen Schattenseiten. Doch wenn Win Butler dabei ein Mädchen besingt, das die Badewanne schon gefüllt und „unsere erste Platte“ („Funeral“!) aufgelegt hat, klingt das, ja wie denn: sarkastisch, abgeschmackt oder doch aufrichtig traurig?

Nicht nur an dieser Stelle hat man den Eindruck, dass die Band ihren anspruchsvollen Hörern ein paar blinkende Köder (Fortschrittsmüdigkeit, Narzissmus etc.) hinwirft – die werden schon anbeißen. Von der kraftvollen Melancholie, mit der das bisher beste Album „The Suburbs“ die Tristesse und Rinnsteinromantik der amerikanischen Vorstädte beschwor, haben sich Arcade Fire hier jedenfalls ziemlich weit entfernt.

Und in der Mitte von „Everything Now“ gähnt geradezu ein Beliebigkeitskrater. Die tanzbare Lappalie „Chemistry“ sowie der in zwei Varianten dann doch stark überbewertete Song „Infinite Content“ wirken vor Régine Chassagnes Hirnrindenkratzer „Electric Blue“ einigermaßen entbehrlich. Erst mit den letzten Stücken entsinnen sie sich ihrer Wurzeln: „Put Your Money On Me“ glänzt als trotziger Liebesbeweis eines ausgebooteten Ehemanns, bevor „We Don't Deserve Love“ als tragisch verhangene Ballade ihren mehr als sechsminütigen Zauber entfalten darf. Fast so, als ob die Wahlkanadier selbst ein wenig Angst davor bekommen hätten, dass sie auf ihrem Erfolgsweg in die Stadien ihre Seelen verlieren könnten.

„Everything Now“ (13 Tracks, darunter Pro- und Epilog des Titelsongs) erscheint am Freitag bei Columbia/Sony.

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