"Die Kanzlerin" von Konstantin Richter Angela Merkel, die Sphinx aus Templin

Die ebenso humorvolle wie tiefgründige Fiktion „Die Kanzlerin“ von Konstantin Richter: Angela Merkel, höchst einfühlsam auf menschliches Maß zurechtgestutzt in einem kleinen Buch.

 Spiegelungen einer Persönlichkeit (neben dem Rednerpult im Bundestag): Wer genau ist diese Angela Dorothea Merkel?

Spiegelungen einer Persönlichkeit (neben dem Rednerpult im Bundestag): Wer genau ist diese Angela Dorothea Merkel?

Foto: AFP

Flüchtlingsmutti. Eiskönigin. Mutter Theresa. Totengräberin der europäischen Idee. Führerin der freien Welt. Gewaltherrscherin eines Kontinents unter teutonischer Knute. Der widersprüchlichen Attribute sind viele, mit denen Schlagwortdrechsler die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland bedenken.

Für Befürworter und Gegner bleibt sie die Unfassbare. Unfassbar rational. Unfassbar zögerlich. Unfassbar stur. Je nach Sichtweise: kühle Logikerin oder kalte Technokratin. Die Sphinx aus Templin. Kein schlechter Ausgangspunkt für den Berliner Journalisten Konstantin Richter, sich in seiner literarischen Miniatur „Die Kanzlerin“ jetzt auf faszinierende Weise als Merkel-Versteher zu üben.

Das kleine Buch erfasst nur ein einziges Jahr im Leben der Kanzlerin. Es beginnt am 25. Juli 2015, als sie in der Pause der „Tristan“-Vorstellung bei den Bayreuther Festspielen einen Schwäche-anfall erleidet. Offizielle Version ist natürlich, es sei bloß der Stuhl zusammengebrochen.

Denn stets ist der öffentliche Eindruck zu bedenken – nicht mal ein griechisches Restaurant kann sie mehr besuchen, weil der Wirt sich gern zur Begrüßung verbeugt („Die Fotos wären in allen Medien gewesen: Merkel und ihr Hausgrieche. Oder noch schlimmer: So hat die Kanzlerin den Griechen gern.“) Zwei kleine Symptome, ein großes Problem: Wer genau ist diese Angela Dorothea Merkel eigentlich?

Hochkulturelle Wagnerianerin oder bodenständige Eintopfköchin?

In Richters Version scheint es, als wisse sie das vor lauter Image selber nicht mehr. Die hochkulturelle Wagnerianerin – die bodenständige Eintopfköchin – welche Geschichten sind wahr, die über sie umlaufen? Welche hat sich die Presseabteilung ausgedacht, welche die Biographen? Welche pflegt sie bloß, um jemandem einen Gefallen zu tun?

Zwar spielt auch Richter virtuos mit den Klischees der Gehirn-Akrobatin auf dem Kanzlerinnenstuhl, lässt sie mal eben Christopher Clarks 900-seitiges Buch „Die Schlafwandler“ zur Entspannung weglesen oder die Schmähung „Teflon-Merkel“ analytisch zerlegen („Sie dachte an Teflon – ein hoch kristalliner Kunststoff, unpolar und antiadhäsiv“).

Doch lässt er die hohe Politik zugleich behutsam zur mal erheiternden, mal bedrückenden Kulisse werden, in der zum Beispiel fast alle Figuren nur als Amtsbezeichnung auftauchen und selbst die Regierungschefin irgendwann die immer gleichen Phrasen leid ist („[Sie wischte] das Porträt Katharinas der Großen vom Tisch und rief: “Globalisierung, Digitalisierung ... Ich kann diesen ganzen Scheiß nicht mehr hören!„“).

In dieser labilen Situation wird die Flüchtlingskrise zum Prüfstein einer Persönlichkeit an sich selbst. „Da sie noch einmal an die alte Geschichte zurückdachte, fragte sie sich doch: War es rühmlich, eine Dreiviertelstunde auf einem Sprungbrett zu stehen und mit sich zu ringen? Musste ihr denn alles Mühe machen? Die Kanzlerin sehnte sich mit einem Mal danach, dass ihr die Dinge leichter von der Hand gingen.“

Merkel wird zur Bauch-Entscheiderin

Es ist der Moment, da die Analytikerin zur Bauch-Entscheiderin wird. Sie wagt eine Untersuchung mit ungewissem Ausgang: Was heißt das, etwas zu wagen? Was heißt das, Glück? Was heißt es, sich zu freuen – und wenn ja, worüber? Was heißt das also: Menschlichkeit?

Richter umschifft die Klippe, die hier aufragt. Er stellt die Ereignisse des Spätsommers 2015 durchaus nicht als eine Art großen, unverantwortlichen Selbstfindungs-Egotrip dar. Aber es rührt doch an, wie die Richter'sche Merkel das politische Geschehen als persönliches erlebt.

Wie sie mit störrischen Bündnispartnern telefoniert: „Der italienische Regierungschef sagte, er sei mit dem Flüchtlingsproblem jahrelang alleingelassen worden. Die Kanzlerin verstand das und trennte den Strunk vom Weißkohl [...] “Oui„, sagte der französische Präsident – und mehr sagte er nicht. “Wie oui?„, fragte die Kanzlerin [...] Sie schüttelte den Kopf, dachte: “Die Sozialisten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.„“

Wie sie bei einer Flasche Riesling aus Dänemark (doch, den gibt's wegen des Klimawandels wirklich) ihre berühmt-berüchtigte Wir-schaffen-das-Rede zu Papier bringt: „Wäre sie tiefenpsychologisch geschult gewesen, dann hätte sie gewusst, was da passierte. Sie sublimierte. Sie verwandelte die Frustrationen der vergangenen Monate in schöpferische Energie.“

Die Kanzlerin als tragische Figur

Alles Menschliche ist politisch; alles Politische ist menschlich; das heißt: dramatisch, und schwer zu steuern. Richter zeigt die Kanzlerin im Verlauf der Krise als tragische Figur, aus deren guter Absicht Schlimmes erwächst: Massenansturm, wütende Volksmassen, Hass-Demos, der pöbelnde Horst Seehofer.

Doch sie wäre nicht die, die sie ist, wäre sie nicht klüger geworden. Drama bedeutet auch Wandlung. Aus der Selbst-Experimentatorin wird wieder die Politikerin. „“Wir schaffen das„ sagte sie nur noch dann, wenn sie gefragt wurde, ob es wirklich zu schaffen sei. (Was hätte sie auch sonst sagen sollen?).“

Wie hier ein versierter Autor mit viel Einfühlungsvermögen eine Herrscherinnenfigur zurechtstutzt und menschlicher macht: Wenn sich dieses faszinierende Buch mit irgendetwas vergleichen lässt, dann vielleicht mit Alan Bennetts ähnlich humorvoll-tiefgründiger Queen-Elizabeth-II.-Fantasie „Die souveräne Leserin“.

Passend dazu pflegt auch Richters Protagonistin bisweilen den monarchischen Man-Ton: „Da wird man jahrelang kritisiert, weil man sich nicht klar genug ausdrückt, und dann sagt man mal so einen schönen einfachen Satz. Und dann ist es auch wieder nicht recht.“ Inmitten der Widersprüche braucht es einen Halt außerhalb des Systems. Bei Bennett sind es die Bücher, die die Königin liest. Bei Richter findet die verzweifelte Kanzlerin einen Zuspruch, den keiner erwartet (nicht mal sie selbst): bei dem staubtrockenen Chemieprofessor, mit dem sie verheiratet ist.

Das wirkliche Ende kommt frühestens am 24. September

Richters Buch endet am 1. August 2016, wieder mit einer Bayreuther „Tristan“-Aufführung. In Wagners Oper geschehen viele dramatische Dinge, weil Menschen von ihren Gefühlen überwältigt werden. Richters Merkel (sie ist vielleicht keine Wirklichkeit, aber sie ist echt) wird das nicht mehr passieren.

Wie passend erneut, dass sie genau zum erlösenden Schlussakkord beschließt, zur Wiederwahl anzutreten. „Die Lippen formten lautlos Worte, im Schoß fanden die Fingerspitzen zur Raute zusammen [...] Auch wenn sie sich alleingelassen fühlte, so hielt sie es doch für falsch, aufzugeben.“ Ein offener Schluss, wie manche ihn auch im „Tristan“ finden. Das wirkliche Ende – darüber ist das letzte Wort frühestens am Abend des 24. September gesprochen.

Konstantin Richter: Die Kanzlerin – Eine Fiktion. Kein und Aber, 173 S., 18 Euro

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