Das Telefon und der Wandel Als die Eltern noch mithörten

Mit steigendem Alter neigen die Menschen zu der Auffassung: Früher war alles besser! Das ist zwar schnell gesagt, aber selten wahr, wie das Beispiel Telefon verdeutlicht.

 Statussymbol des Wirtschaftswunders: das eigene private Telefon. Gewöhnlich war es in der Diele der Wohnung installiert und von dort auch nicht wegzubewegen.

Statussymbol des Wirtschaftswunders: das eigene private Telefon. Gewöhnlich war es in der Diele der Wohnung installiert und von dort auch nicht wegzubewegen.

Foto: picture-alliance/dpa

Wenn man schon lange für ein Unternehmen tätig ist, dann ist man felsenfest davon überzeugt, jeden Winkel des Firmengeländes zu kennen. Würden Sie mir da zustimmen? Oder gehört die grundsätzliche Überzeugung, alles schon zu kennen, alles schon zu wissen, alles schon erlebt zu haben, lediglich zu den zahlreichen Begleiterscheinungen des Altwerdens?

Neulich suchte ich den unscheinbaren Gang im Erdgeschoss des Hauptgebäudes auf, der auf halber Strecke zwischen Pförtnerloge und Poststelle eine Reihe von Automaten beherbergt. Kaltgetränke, Süßigkeiten – ich beschloss, mir einen Kakao zu ziehen. Weil der Automat mit der Zubereitung des Heißgetränks eine Weile beschäftigt war, blieb etwas Zeit, um über die Welt nachzudenken und geistesabwesend die am benachbarten Schwarzen Brett aufgehängten Hinweise zum Verhalten im Brandfall zu studieren.

Zum ersten Mal nach all den Jahren fiel mir dabei die Tür links von der Magnettafel auf. Eine Tür mit gläsernem Bullauge. Sie ließ sich problemlos öffnen. Das Licht flammte auf, und die Zeitmaschine im Kopf setzte sich augenblicklich in Gang: eine Telefonzelle!

Eine echte Telefonzelle mit schallschluckender Holzverkleidung und einem schiefergrauen Wandapparat samt Münzeinwurf. Der erste Reflex: Es rührt und wärmt die Seele, auch außerhalb des Bonner Hauses der Geschichte Gegenständen zu begegnen, die Bestand haben, auch wenn sie heute niemand mehr braucht – dazu gehört zweifellos eine kleine Telefonzelle in einem modernen Medienhaus des 21. Jahrhunderts.

Jüngeren Lesern der Smartphone-Generation ist an dieser Stelle vielleicht eine Erklärung hilfreich: Telefonzellen gab es früher an fast jeder Straßenecke. Die brauchte man tatsächlich. Weil mobile Telefone noch nicht erfunden waren. Das Gerät hatte zunächst eine Wählscheibe statt einer Tastatur, zwei Groschen reichten für ein Ortsgespräch.

Wollte man ein Ferngespräch führen (auch die Flatrate wurde erst später erfunden), etwa von Bonn ins ferne Köln, war es ratsam, sich vorher mit einem ordentlichen Vorrat an Münzgeld einzudecken, um selbst entscheiden zu können, wann das Gespräch enden sollte. Sonst entschied das nämlich die erbarmungslose Mechanik des Geräts.

Die öffentliche, gelb lackierte Telefonzelle war das Paarungsergebnis zweier inzwischen ebenfalls vom Aussterben bedrohter Dinosaurier des Alltagslebens: das Festnetz und das Münzgeld. Gewöhnlich hing in der Zelle ein Schild mit dem Spruch: Fasse dich kurz! Eine Empfehlung des Fernmeldeamtes der Deutschen Bundespost, der die Telefonzellen gehörten.

Hielt man sich nicht an die Empfehlung, so dauerte es gewöhnlich nicht lange, bis aus der Nachbarschaft ein älterer Herr mit Hut auftauchte und empört mit der Faust gegen die Glasscheibe der Zelle hämmerte: Junger Mann, wollen Sie noch ewig telefonieren? Haben Sie nicht gelesen, was da steht? So war das. Ältere Herren mit Hut gerieten damals schnell in Rage, sobald sie in Kontakt mit Jugendlichen gerieten: Junger Mann, hier haben Sie fünf Mark, gehen Sie mal zum Friseur und lassen Sie sich die Haare schneiden!

Natürlich hätte man auch von zu Hause telefonieren können. Die meisten Eltern der Jugendlichen des Geburtsjahrgangs 1958 verfügten bereits über einen Telefonapparat; in Kleinstädten mit vierstelliger, in umliegenden Dörfern mit dreistelliger Rufnummer. Damals wurden so ziemlich alle Geräte, die dank moderner Ingenieurskunst für den großen Markt produzierbar wurden, Apparat genannt: Fernsehapparat zum Beispiel, Fotoapparat und Rasierapparat.

Der Apparat, mit dem man zu Hause telefonieren konnte, war schwarz, schwer und aus unverwüstlichem Bakelit; man konnte damit vermutlich auch Nägel in die Wand schlagen, obwohl mir spontan niemand einfällt, der das mal ausprobiert hätte. Und das Wichtigste: Er stand unverrückbar in der Diele und war dort per kurzem Kabel untrennbar mit der Buchse in der Wand verbunden.

Ein wichtiges, absolut vertrauliches Gespräch außerhalb der Hörweite der Eltern zu führen, war praktisch unmöglich. Dazu muss man wissen, dass Telefongespräche von Jugendlichen immer wichtig und grundsätzlich nicht für die Ohren der Eltern geeignet sind. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Ein weiterer Reflex, der ältere Generationen bei der überraschenden Begegnung mit der Vergangenheit überfällt, spiegelt sich in dem formelhaften Satz: Früher war alles besser! Ist das tatsächlich so? War es besser, Autos ohne Servolenkung zu fahren? Oder die Wohnung mit Zimmerkohleöfen zu beheizen? Oder Abwässer ungeklärt in den Rhein zu leiten? War es besser, dass Ehefrauen nur mit Erlaubnis ihres Mannes einer Erwerbstätigkeit nachgehen durften? War es besser, Homosexuellen mit Gefängnis zu drohen und nur die Kinder einer Elite studieren zu lassen?

Früher war einiges besser und einiges schlechter und alles anders. Und so wird es immer sein.

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