Zweiter Weltkrieg in Köln „Wir sind noch da“

Als junger Mann stürzte sich Klaus Schöddert in den Zweiten Weltkrieg. Seine Eltern verloren durch die Bombenangriffe auf Köln ihr Zuhause. Ihre Briefe an den fernen Sohn spiegeln deutsche Geschichte.

 Gegenwart: Schöddert in seiner Wohnung in Köln-Klettenberg.

Gegenwart: Schöddert in seiner Wohnung in Köln-Klettenberg.

Foto: Walbroel

Am 11. September 1944 schreibt Matthias Schöddert einen Brief an seinen Sohn: „Hier ist Alarm auf Alarm. Und wenn nicht Alarm ist, ist man seines Lebens nicht sicher vor Tieffliegern. Hier sind allerlei Gerüchte wegen Räumung im Umlauf. Ich bin entschlossen, wenn ich nicht gezwungen werde, zu gehen, hier zu bleiben. Wo sollen wir auch hin? Wir sind natürlich in großer Sorge auch deinetwegen. Ich meine, du könntest doch etwas häufiger schreiben.“

Seit 1940 fliegen die Alliierten Bombenangriffe auf Köln, um die Bevölkerung zu demoralisieren. Besonders auf die Fabriken haben sie es abgesehen. Insgesamt sterben rund 20.000 Menschen bei den Luftangriffen auf Köln.

Klaus Schöddert, der heute 91 Jahre alt ist und in seiner Kölner Wohnung zufällig auf Abschriften der Briefe stieß, erinnert sich noch genau an die Sorge, die seine Eltern stets hatten. „Sie wussten ja nicht, wo ich bin und ob ich überhaupt noch lebe. Man darf nicht vergessen, dass jeder Brief der letzte sein konnte. Ich selbst war sicher, dass meine Eltern das Richtige machten. Für uns waren die Nazis nur braune Verbrecher, daher ist mein Vater auch nie Parteimitglied geworden.“

Schöddert erinnert sich noch gut; beinahe an alles, was in den Briefen steht. Alles hat er in seinem Kopf abgespeichert. Nachdem er als Jugendlicher die Bücher über Manfred von Richthofen gelesen hatte, den berühmten Jagdflieger aus dem Ersten Weltkrieg, meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht; der 17-Jährige wollte unbedingt selbst Jagdflieger werden.

„In den Büchern war zwar auch Krieg, aber das erschien mir alles wie ein großes Abenteuer. Ich kannte von der Welt ja nichts, und dann bin ich als junger Soldat plötzlich nach Frankreich und habe Paris gesehen, auch noch Dänemark und Norwegen.“ Mit der Fliegerei klappte es nicht: Schöddert wurde für untauglich erklärt, was die Pilotenausbildung betraf.

1944 wurden beinahe täglich Angriffe auf Köln geflogen. Schödderts Eltern warteten im Luftschutzkeller auf Nachrichten von ihrem Sohn. Am 8. Oktober 1944 schrieben sie: „Wir fragen uns jeden Tag, ob du noch in Stade bist. Schreib‘ häufiger!“

In Stade war ihr Sohn nicht mehr, sondern auf dem Weg über Dänemark in Richtung Norwegen. Schöddert hatte nun Bordfunker werden wollen. „Das sind die, die mit dem Piloten im Flugzeug sitzen und den Truppen am Boden durchgeben, wo der Feind ist“, sagt er. In Stade bei Hamburg sollten er und andere junge Männer zu Funkern ausgebildet werden. Aber es kam anders: „Ich wurde nach Norwegen verlegt“, erinnert sich Schöddert. „Die Einheiten aus Stade karrte man dann nach Osten, um Einbrüche in der Front aufzufüllen. Als Nachrichtenleute waren wir nicht für den Kampf ausgebildet. Alle wussten, dass wir verheizt werden würden.“

Schöddert kam zugute, dass er sich freiwillig gemeldet hatte. Er durfte in der norwegischen Stadt Bergen bleiben. Seine Eltern hatten ihm extra eine warme Weste geschickt, als sie erfuhren, dass er nach Norwegen gehen würde: „Es war eine schöne Weste aus Kaninchenfell, die mich im Winter beim Wachestehen etwas besser wärmen sollte. Als wir auf dem Weg nach Norwegen waren, wurden wir entlaust. Ich habe zwar nie Läuse gehabt, aber Befehl ist Befehl. Alle Kleider wurden mit starker Hitze behandelt. Als ich die Fellweste zurückbekam, war sie so geschrumpft, dass sie einem Dreijährigen gepasst hätte. Ich habe sie nicht ein Mal angehabt.“

Schöddert hatte schon früher vor, die Briefe zu veröffentlichen und hat sie vor Jahrzehnten alle eigenhändig abgeschrieben – etwa 40 Seiten. Er besitzt Hunderte von Ordnern mit alten Dokumenten, Briefen, Fotos und anderen Erinnerungsstücken. Sein Anliegen: an die Schrecken des Krieges erinnern. Schödderts Mutter Helene litt sehr unter den Angriffen der Flieger.

Am 13. Oktober 1944 schreibt ihr Mann an Sohn Klaus: „Deine Mutter wird noch verrückt, wenn das so weitergeht, daß wir nichts von dir hören. Sie liegt mir dauernd in den Ohren mit ihren Phantasien und bösen Träumen.“ Bereits zwei Tage später, am 15. Oktober, hatte sich die größte Angst der Eheleute bewahrheitet: „Morgens um halb 6 ein Überfall feindlicher Bomben, kein Alarm. Als wir nach oben kamen, war die Wohnung stark beschädigt, das Dach hatte schwer gelitten. Sämtliche Scheiben entzwei, kein Licht, kein Wasser. Wir fingen eben an, aufzuräumen, da kam dein Brief.“

Später ergänzt er: „Wir kriegten die Fenster nicht dicht und mussten uns so hinlegen. Eine schlaflose Nacht. Zweimal Großalarm. Eben hatte ich die Fenster mit Pappe etwas fest gemacht, da fing es an zu regnen. Überall regnet es durch. Ich habe alle Hoffnung verloren, dass wir hier bleiben können. Aber wohin? Wenn ich etwas Hilfe hätte. Hätte ich dich doch jetzt hier, mein lieber Junge, hoffentlich sehen wir uns noch mal wieder.“

Am 29. Oktober hatte sich die Lage der Schödderts nochmals verschlimmert. „Wir leben noch und es ist ein Wunder. Alles andere ist dahin. Am Donnerstag sind wir zu Hein und Maria gefahren. Die Bahn fuhr stückweise wieder. Maria, Reimunds Frau, war in Abwesenheit am Herzschlag gestorben. Reimund war nämlich am Samstag ausgebombt worden und hauste mit der ganzen Familie unter dem Schutt. Das hat Maria den Rest gegeben. Am Morgen war dein Brief aus Bergen mit deiner neuen Anschrift eingetroffen“, schreibt Schödderts Vater.

Wie er sein Haus aufgeben musste, schilderte Matthias Schöddert in dramatischen Worten: Er habe alles liegenlassen, Hänschen, den Kanarienvogel, unter den Tisch gestellt und sei als Letzter in den Keller gekommen. Als das Haus über dem Keller zusammenfiel, durchbrachen die Menschen die Wände zu den angrenzenden Kellern.

„Den nächsten Durchbruch, wieder den nächsten auf und immer Bomben und Feuer. Die Treppe brannte schon lichterloh. Ich hörte schon über mir die Böden herunterkommen. Viele Sachen sind verloren gegangen, wurden gestohlen, doch wir leben. Ich war dann die ganze Nacht auf, um aufzupassen, dass wir bei einem Übergriff nicht erstickten. Meine Augen sind rot entzündet. Dabei kamen die Flieger um 7 Uhr und um 9 Uhr abends noch mal. Also Mülheim ist nicht mehr. Kein Haus mehr. Trümmer. Es lässt sich nicht beschreiben. Ich bin zurück in den Keller, habe deine Mutter geholt, zusammengerafft, was wir tragen konnten und dann zu Hein und Maria. Übrigens war ich heute Morgen noch mal an unserem Haus. Im Keller brannte es noch. Hänschen ist auch verbrannt. Maria auch. Es ist fürchterlich.“

Damit Klaus noch wusste, wo er seine Briefe hinschicken konnte, hatten seine Eltern zuvor Adressen von Verwandten geschickt, wo sie notfalls unterkommen könnten. Sie trafen noch eine weitere Vorsichtsmaßnahme: Um herauszufinden, ob zwischendurch Briefe verloren gingen, fingen sie an, alle Briefe mit Nummern zu versehen. „Briefe sind oft irgendwie weggekommen – ob in einem Zug, der beschossen wurde, als Rauchwölkchen in den Himmel aufgestiegen, oder sie vermoderten unter den Trümmern irgendeines Bahnhofes oder Postamtes“, sagt Klaus Schöddert. Ihm liegt daran, dass jüngere Menschen seine Erlebnisse und das Leben in jener Zeit besser verstehen.

Zum Beispiel das seiner Mutter. 1944 erlebte sie ein furchtbares Weihnachten: „Wir sind von Gott geschlagen, weil wir selbst kein Heim mehr haben. Wir wissen auch nicht, ob wir hier bleiben können. Vater meint immer, wir wären besser unter den Trümmern geblieben, dann wüssten wir von nichts mehr. Aber ich sage immer, wir können Gott nicht genug danken, dass er uns am Leben erhalten hat, denn wir haben Dich ja noch und müssen noch für Dich da sein. Wir haben Tag und Nacht keine Ruhe vor den Fliegern. Wir fahren noch immer jeden Tag unter abenteuerlichen Umständen nach Mülheim, um nach Oma, Opa, Tante Käthe und Reimund und den Kindern zu suchen. Wir wissen nicht, wo sie sind und machen uns große Sorgen.“

Bis zuletzt hoffte Helene Schöddert, Klaus könne Urlaub bekommen und sie über Weihnachten besuchen. Doch daraus wurde nichts. Am ersten Weihnachtstag schrieben die Eltern an Klaus, wie sehr sie ihn vermissten und dass die Fliegerangriffe nicht abbrachen. Sie aßen in Mantel und Hut – stets bereit, in den Keller zu flüchten.Wohl fühlten sie sich in ihrer neuen Behausung nicht.

Am 3. Januar 1945 schrieb Helene Schöddert, dass sie die Neujahrstage bei Onkel Heinz verbracht hätten: „Wir sind noch da, wir haben nochmals Glück gehabt. Wir hatten nachmittags dauernd Alarm. Bin von einem Bunker in den anderen gegangen. Wir waren alle wie gehetztes Wild, das um sein Leben läuft. Diesen Brief schreibe ich wieder im Lichte der Petroleum-Lampe.“ Das ist vermutlich der letzte Brief, den Klaus Schöddert von seinen Eltern bekam.

Im Januar oder Februar 1945, ganz genau weiß er das nicht mehr, bekam er dann doch noch Urlaub, um seinen Eltern zu helfen. Danach musste er noch einmal nach Norwegen. „Als der Krieg im Frühjahr vorbei war, saß ich in Bergen auf einem Turm. Von der Kapitulation hatten wir im Radio gehört, dann sind wir in den Hafen gelaufen und haben Schnaps und Wein zusammengeklaubt.“

Nach einem halben Jahr als Kriegsgefangener der Briten konnte er schon im Herbst 1945 nach Deutschland zurückkehren. „Die Engländer haben mir sogar Frühstück serviert und eine Zigarre gegeben – die deutschen Offiziere nie“, erinnert er sich.

Über mehrere Stationen landete er schließlich in Bonn und machte sich von dort aus auf den Heimweg nach Köln. Seine Eltern hatten in Holweide ein neues Haus gefunden, wo sie bis zu ihrem Tod in den 1960er Jahren lebten. Klaus Schöddert selbst heiratete wenig später Ilse, die er aus der Lehre zum Kaufmännischen Verlagsangestellten in Deutz kannte, und zog mit ihr zusammen in eine Wohnung nach Klettenberg, in der er noch heute lebt.

Sie führten gemeinsam zwei Zeitschriften- und Schreibwarenläden in Ostheim und in Mülheim – wie seine Mutter vor dem Krieg. Seit Ilses Tod zu Beginn des vergangenen Jahres räumt Schöddert seine Wohnung auf. Dabei findet er immer wieder Erinnerungsstücke. Die Briefe zum Beispiel.

„Ich verstehe nicht, warum es immer noch Leute gibt, die Kriege anzetteln“, sagt er heute, fast 72 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. „Krieg ist das Schlimmste, was es gibt.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort