GA-Albumkritik „Room 29“ von Chilly Gonzales und Jarvis Cocker

Intimität und Intensität: Das Album „Room 29“ von Chilly Gonzales und Jarvis Cocker ist eine Hommage ans alte Hollywood.

 8221 Sunset Boulevard in West-Hollywood: Chilly Gonzales (links) und Jarvis Cocker im Zimmer 29 im Chateau Marmont. FOTO: ALEXANDRE ISARD / DEUTSCHE GRAMMOPHON

8221 Sunset Boulevard in West-Hollywood: Chilly Gonzales (links) und Jarvis Cocker im Zimmer 29 im Chateau Marmont. FOTO: ALEXANDRE ISARD / DEUTSCHE GRAMMOPHON

Foto: universal

Chilly Gonzales, bürgerlich Jason Charles Beck, weiß, wie man Aufsehen erregt. Der 1972 in Kanada geborene, in Köln lebende Pianist tritt gern in Bademantel und Pantoffeln auf. Nicht zuletzt wegen seiner Marotten liebt ihn das Publikum. Am Ende des Jahres spielt Gonzales immer in der Kölner Philharmonie; der Saal ist jedes Mal ausverkauft. 2014 hatte er neben dem Hamburger Kaiser Quartett und dem Schlagzeuger Joe Flory einen weiteren, prominenten Gast eingeladen: Jarvis Cocker, damals. Cocker, Jahrgang 1963, und seine Band Pulp haben 1995 mit „Different Class“ eines des besten Alben des Britpop herausgebracht. Stücke wie „Common People“ und „Disco 2000“ sind nach wie vor unwiderstehlich gut.

In der Philharmonie präsentierte der hoch aufgeschossene, spillerige Cocker eine Weltpremiere, drei vom Hotel Chateau Marmont in Los Angeles und dem Lokal Musso & Franks' inspirierte Songs: „Tearjerker“, „Bombshell“ und „Icecream As Main Course“. Das alte Hollywood, etwa in der verführerischen Gestalt von Jean Harlow (1911-1937), stand Pate bei den von Gonzales und Cocker imaginierten musikalischen Kurzgeschichten.

Damals hatte das hingerissene Publikum nur einen Wunsch: Möge aus der Zusammenarbeit der beiden Musiker ein Album entstehen. Und siehe da, nach fünf Jahren ist „Room 29“ jetzt auf dem Markt: ein Zyklus mit 16 Songs, mit Duetten zwischen Stimme und Flügel, Piano-Zwischenspielen und Streicherbegleitung durch das Kaiser Quartett (Martin Bentz, Cello; Adam Zolynski, erste Geige; Jansen Folkers, zweite Geige; Ingmar Süberkrüb, Viola). Die Stimme des britischen Filmkritikers und -historikers David Thomson ist zu hören sowie ein Füllfederhalter auf Papier. Und Straßengeräusche sowie surreale Effekte. In einem Lied wird ein rückwärts spielendes Klavier eingesetzt.

Das Album erzählt eine Geschichte aus der Perspektive eines Stutzflügels, der in einem Hotelzimmer steht. Nicht in einem beliebigen Raum, sondern im Raum 29 des Chateau Marmont in West-Hollywood. Es ist das legendäre Hotel der Stars, in dem zum Beispiel Jean Harlow ihre Flitterwochen verbrachte. Ihr Mann, der Drehbuchautor Paul Bern, erfüllte nicht alle Erwartungen seiner Frau. Er nahm sich zwei Jahre später das Leben. Die Wirklichkeit von Menschen im Hotel verschmilzt auf dem Album mit all den unerreichbaren Fantasien, die Hollywood verkörpert. Ein Hotelzimmer, ganz besonders in Hollywood, sei für viele Menschen ein Ort zum Träumen, sagt Cocker. Nicht alle Träume gehen jedoch in Erfüllung. „In dem Album geht es darum zu realisieren, dass viele deiner Träume und Fantasien nicht deine eigenen sind“, befand Cocker über den Liederzyklus. In den Songs „Bombshell“ und „Trick Of The Light“ drückt sich die Diskrepanz zwischen den Botschaften aus der Traumfabrik und eigener Erfahrung auf poetische und pointierte Weise aus.

„You taught us to kiss / Taught us so many things / Do you mind if I ask / When do we get to join in?“, singt Cocker in „Trick Of The Light“. Am Ende, so sehen es die Musiker, expandiert das Klavier zu einem Flügel, und das Streicherquartett zum Orchester. Sozusagen der Hollywood-Effekt. Die Songs auf dem mit dem Produzenten Renaud Letang im Studio Ferber in Paris aufgenommenen Album sollten klingen, als wären sie in einem Hotelzimmer aufgenommen, in dem ein Klavier steht.

Das erklärt die Intimität und die Intensität der Musik. Gonzales' zwischen Klassik und Jazz, Erik Satie und Kurt Weill irrlichternde Klaviermusik verbindet sich mit Jarvis Cockers coolem, manchmal somnambul anmutenden Bariton zu einer magischen Einheit. Angeblich wollte er klingen wie der späte Johnny Cash und wie Lee Hazlewood, hat Cocker in dem Magazin „Spex“ erklärt.

Elegische Stücke wie „Daddy, You're Not Watching Me“ wechseln mit farbenfrohen Fantasien wie „Ice Cream As Main Course“ und frechen Miniaturen wie „Belle Boy“. Der Song „Clara“ erzählt von Mark Twains Tochter, die nach dem Tod ihres Mannes, des Pianisten Ossip Gabrilowitsch, ins Chateau Marmont einzog. Drogen und Alkohol führten zum Tod ihrer Tochter Nina im Jahr 1966. Das Lied besitzt den Duktus eines Briefes: „Clara, dear Clara“.

Cocker und Gonzales verschicken aber keinen Liebesbrief. Eher eine desillusionierte Bestandsaufnahme, die sich in Zeilen wie „Now you're a lonely widow / And your daughter's alcoholic“ ausdrückt. Und in der Frage: „Clara, dear Clara / Tell me, please do: / How come your dear father / was far smarter than you?“ Seinen Biss hat Jarvis Cocker auch nach dem Ende der Band Pulp nicht verloren.

Jarvis Cocker & Chilly Gonzales: Room 29. Deutsche Grammophon.

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