Zum Tod Egon Bahrs und zum Zustand Europas Wandel des Wandels

Die Geschichte hat ihm recht gegeben. Spät, aber sie hat. Was ist Egon Bahr angefeindet worden, als er in den 1960er Jahren die Politik des "Wandels durch Annäherung" propagierte, als er versuchte, die Gräben, die die Nazi-Barbarei und der Zweite Weltkrieg in Europa geschaffen hatten, zu überwinden.

Doch Egon Bahr ließ sich nicht beirren, ließ die (Ab-)Qualifizierungen als Verzichtspolitiker und Vaterlandsverräter an sich abprallen, auch wenn ihm so viel Unverständnis manchmal hart ankam - darin Willy Brandt sehr ähnlich.

Egon Bahr geht ein in die Geschichte als einer der Architekten der Entspannung und in der Folge der europäischen und der deutschen Einheit. Egon Bahr geht ein in die Geschichte als Beweis dafür, dass auch einzelne Politiker Geschichte gestalten können, wenn sie Mitstreiter finden und wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse passen. Ende der 1960er Jahre war die Zeit reif für den Versuch einer Entspannungspolitik, Ende der 1980er war sie reif für die Wiederherstellung der deutschen Einheit.

Eine Entwicklung, die niemand - auch Egon Bahr nicht - vorhergesehen hat. Eine Entwicklung, die ohne andere, etwa Michail Gorbatschow, so oder so schnell auch nicht möglich gewesen wäre. Und eine Entwicklung, die in der Bundesrepublik politische Gegner von einst schließlich doch noch versöhnt hat. Christdemokraten und Sozialdemokraten etwa.

Und dennoch muss man sich im Rückblick auf die Leistungen Egon Bahrs vor Schönfärberei hüten. Gewiss, die deutsche Einheit ist eine historische Leistung, sie ist auch gewiss unumkehrbar, aber es gibt immer noch Defizite. Es gibt blühende Landschaften ( und ob!), aber es gibt eben auch leere Landschaften und braune Landschaften.

Es gibt Gegenden in Ostdeutschland, in denen wenig wächst - Arbeitsplätze schon gar nicht - und es gibt Gegenden, in denen undemokratisches Gedankengut immer noch oder schon wieder so viel Raum hat, dass Flüchtlingsheime brennen und Ausländer um ihr Leben fürchten müssen.

Und spätestens seit dem vergangenen Jahr wissen die Europäer, dass auch die europäische Einigung, die Überwindung der Blöcke und der Spaltung, längst nicht auf dem festen Fundament steht, von dem hier viele geträumt haben. Dabei sind nicht nur Wladimir Putin und sein Bestreben zu erwähnen, ein verlorenes Reich wiederherzustellen. Da darf man auch an besorgniserregende Entwicklungen in Staaten denken, die heute der EU angehören, etwa an Ungarn.

Egon Bahr hat sich wie wenige um europäische und deutsch-deutsche Entspannung verdient gemacht. Die aktuelle Lage in der Bundesrepublik und in Europa verweist jedoch sehr deutlich darauf, dass Politik sich auf diesen Erfolgen nicht ausruhen darf. Die innere Einheit ist noch nicht vollendet, die europäische akut gefährdet.

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