Kommentar Von 1968 bis heute - Werte und Wandel

Es ist chic, über "die 68er" zu lästern, sie für die meisten Fehlentwicklungen der Gesellschaft verantwortlich zu machen. Das ist historisch ungerecht und falsch. Der Werteverfall entpuppt sich als Wertewandel, auch wenn zwei aktuelle Debatten diesem Vorurteil Nahrung geben: die Pädophilie- und die Gewaltdebatte.

Kernziel der 68er - nicht nur in Deutschland, sondern europaweit bis hin in die USA - war das Aufbrechen verkrusteter Strukturen, war eine neue Freiheit. Dieses Ziel wurde mit widersprüchlichen Mitteln angegangen, und manch eine Bewegung schoss über das Ziel hinaus.

Befreiung von verkrusteten Strukturen in Deutschland hieß zunächst einmal Antifaschismus: Es war das überfällige Bestreben, sich nach dem Wiederaufbau mit der Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen, den zu bruchlosen Neubeginn zu demaskieren. Die Verwirklichung dieses Zieles hat der deutschen Gesellschaft gut getan, sie hat befreiend gewirkt.

Das zweite Ziel war ein - teilweise militanter - Antikapitalismus; er hatte im Kampf gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit soziale, solidarische Züge.

Hinzu kam ein ebenfalls zuweilen militanter Antiimperialismus, geprägt vom Kampf gegen den Vietnamkrieg und generell gegen die Unterdrückung von Völkern und Freiheitsbewegungen. Deshalb war die 68er Bewegung im Kern eben doch eine Freiheitsbewegung, auch wenn ein Teil dieser Bewegung in Gewalt bis hin zum Terror der RAF endete.

Joschka Fischer, der junge Steinewerfer und später viel umjubelte Außenminister, kann von diesem Paradox ein Lied singen, so wie bis heute nicht wirklich erklärbar ist, wieso eine Bewegung, die sich individuelle Freiheit auf die Fahnen geschrieben hatte, zum Teil in einem autoritären Kollektivismus mündete. Antiautoritäre Erziehung verbunden mit dem festen Glauben an (selbst gewählte) Autoritäten. "Ho ho ho Chi Minh!" riefen sie und hatten die rote Mao-Bibel in der Hand.

Ja und schließlich hatte diese so breit gestreute Protestbewegung, deren kulturelle Flowerpower-Woodstock-Elemente nicht vergessen werden dürfen, natürlich dramatische Rückwirkungen auf das gesellschaftliche Leben, Werte wie Ordnung und Treue wurden genauso infrage gestellt ("Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment") wie die Familie. Der überbordende Freiheitsdrang führte den einen oder die andere in die Irre, wie jene FDP-Kandidatin, die dieses Wochenende abtrat, weil sie Sex mit Kinder für einen Ausdruck von Freiheit hielt - wie früher die Jungen Liberalen oder die Grünen. Doch gemach: Die Frauenbewegung hat in den 68ern ihren Ursprung, und Angela Merkel ist jetzt Kanzlerin. Die Antidiskriminierungsbewegung ebenfalls, und Guido Westerwelle ist jetzt Außenminister. Die 68er? Ein Hoch mit eingelagerten Tiefs.

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