Kommentar Unruhen in der Türkei - Am Scheidepunkt

ISTANBUL · Die wirtschafts- und reformpolitischen Leistungen des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan in den letzten zehn Jahren sind unbestritten. In gewisser Weise ist sogar der Aufstand gegen ihn eine Folge der Erdogan'schen Reformen, denn unter seiner Regierung hat sich die türkische Zivilgesellschaft entfalten können wie nie zuvor.

Doch bei aller Reformpolitik hat Erdogan nie über seinen Schatten springen können. Nach wie vor handelt er aus der Überzeugung heraus, dass er für seine Anhänger gegen "die Anderen" in der Türkei zu kämpfen hat. Selbst als mächtigster Politiker des Landes seit einem halben Jahrhundert sieht er sich und seine Leute als Opfer, die sich gegen den Widerstand der alten Eliten behaupten müssen.

Auch auf dem Höhepunkt seiner Macht vermag es Erdogan nicht, sich von diesem Weltbild freizumachen. Deshalb fällt es ihm schwer, die Aktionen der Demonstranten als Ausdruck echter Sorgen und Befürchtungen ernst zu nehmen. Und deshalb wirkt er manchmal wie ein Herrscher im Arabischen Frühling, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt.

[kein Linktext vorhanden]Es ist wichtig für die Türkei, weitere Eskalationen und Gewalt zu vermeiden. Doch fast ebenso wichtig ist es für das Land, die vorhandenen Konflikte jetzt auszutragen, ob es nun um die Rolle des Islam im öffentlichen Leben geht oder um Minderheitenrechte. Die große Frage ist, ob die Türkei es schafft, gewaltfreie Kanäle für die gesellschaftlichen Streitfragen zu finden. Wenn das gelingt, wird das Land einen großen Sprung nach vorne machen. Scheitert der Versuch aber, wird die Türkei in eine noch viel tiefere Krise schlittern.

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