Kommentar Umsturz in der Ukraine - Kiews Traum von der EU

Niemand wird den Menschen in der Ukraine verübeln können, dass sie nach dem Kampf gegen die russlandtreue Diktatur nun ihr Heil dort suchen, wo Frieden und Wohlstand zum Programm gehören: Kiew will in die EU.

Das ist leider genau die Vision, die die Brüsseler Unterhändler nicht schüren wollten. Eine Gemeinschaft, die rund um ihre Grenzen von potenziell Beitrittswilligen umgeben ist und genügend eigene Probleme hat, kann nicht noch einen Kostgänger gebrauchen.

Die Frage, ob die EU oder die Ukraine weniger beitrittsreif ist, muss man nicht beantworten. Weil jede Antwort auf das Gleiche hinausläuft: Die Ukraine muss warten. Wenn nicht gar auf eine türkische Lösung hoffen: als Partner privilegiert, mit Zugang zum Binnenmarkt, ausgestattet mit dem Recht zur visafreien Einreise, reservierten Plätzen für Studenten, vielleicht sogar Arbeitnehmer-Quoten. Das Instrumentarium der Östlichen Partnerschaft hält viele Angebote offen.

Dennoch wird Brüssel nach dem Umsturz-Wochenende von Kiew seine Ostpolitik neu durchdenken müssen. Moldawien, Georgien, Aserbaidschan, Armenien und Weißrussland werden genau beobachten, welche Zusagen die Ukraine in Brüssel herausschlagen kann. Auch wenn noch längst nicht alle Kandidaten der Östlichen Partnerschaft so weit sind - der Traum von einer Mitgliedschaft in der EU ist verbreitet. Doch er könnte Europa unregierbar machen.

Denn eine EU, die mit der Türkei, den Balkan-Ländern und den Nachbarn im Osten auf über 40 Mitgliedstaaten anwachsen würde, hat - zumindest in den gegenwärtigen Strukturen - Züge eines Schreckgespenstes. Sie dürfte - auf der Grundlage der heutigen Förderkriterien - auch nicht mehr bezahlbar sein. Weil die Zahl derer, die Brüssel alimentieren müsste, den kleineren Kreis der Nettozahler überfordern würde.

Die EU braucht neue Instrumente, um Neulinge zu integrieren, ohne sie aufnehmen zu müssen. Das kann funktionieren, wenn die Gemeinschaft es schafft, was sie mit der Östlichen Partnerschaft erreichen wollte: regionale Ableger schaffen, die an die Kern-Union angedockt die gleichen Werte praktizieren. Und damit den Menschen das bescheren, wofür sie gekämpft haben.

Tatsächlich geht Europa aus dem "Fall Ukraine" als strahlender Sieger hervor. Weil man vor aller Welt dokumentiert hat, dass das alternative Politikmodell zur Lösung von Konflikten erfolgreicher ist als jene Strategien, auf die sich Großmächte bisher nur allzu gern gestützt haben: Diplomatie statt militärischer Intervention, Verhandlungen statt ökonomischer Abhängigkeit, Gespräche statt Drohen und Unterdrücken. Und das alles unter Verzicht auf sogenannte eigene strategische Interessen. Denn genau das, was die Ukraine jetzt von Europa erträumt, war nicht das Ziel der Kompromisssuche in Kiew.

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