Kommentar Türkei - Erdogans Wagenburg

ISTANBUL · Ministerpräsident Erdogan ist dabei, sein politisches Lebenswerk zu zerstören. Als Reformer hatte er seit dem Beginn des letzten Jahrzehnts die undemokratische Vormundschaft der Militärs und der säkularistischen Eliten beendet. Doch anschließend setzte Erdogan lediglich die eigene Machtfülle an die Stelle des alten Systems.

Das rächt sich jetzt. Seit der Aufdeckung des Korruptionsskandals zeigt sich, welche Folgen der Realitätsverlust eines Politikers haben kann, der keiner wirksamen Kontrolle unterliegt. Der Ministerpräsident fühlt sich umzingelt von Feinden, die ihn auf hinterhältige Weise entmachten wollen: Statt der Justiz zu erlauben, den Vorwürfen gegen sein Umfeld nachzugehen, taucht Erdogan in Verschwörungstheorien ab.

Er vergleicht ermittelnde Staatsanwälte mit Terroristen. Er sagt, ausländische Kräfte mit Komplizen im Inland wollten die Türkei niederhalten und hätten deshalb ein Komplott gegen seine Regierung angezettelt. Nicht die Justiz, sondern die Regierung soll nach Erdogans Meinung darüber entscheiden, gegen wen ermittelt wird.

Als die - von Erdogan beschimpfte - Istanbuler Staatsanwaltschaft nach der ersten Welle von Festnahmen in der Korruptionsaffäre die Polizei beauftragte, weitere Verdächtige in Gewahrsam zu nehmen, weigerte sich die Polizei einfach: Erdogan hatte kurz zuvor einen treu ergebenen Anhänger zum Istanbuler Polizeichef ernannt - dem Mann ist die Loyalität gegenüber Erdogan offenbar wichtiger als die Wünsche der Staatsanwaltschaft.

Wie schon während der Unruhen vom Sommer reagiert Erdogan mit einer Wagenburgmentalität, die die Welt in "Für mich" und "Gegen mich" einteilt. Er macht immer neue angebliche Hintermänner in immer absurderen Szenarien aus. Das Problem besteht aber nicht nur in der Paranoia einiger Erdogan-Berater.

Im Korruptionsskandal zeigt sich eine grundlegende Schwäche der türkischen Republik. Trotz aller Reformen hat das Land es nicht geschafft, sich von der Figur des alles beherrschenden starken Mannes an der Spitze zu lösen und Institutionen zu schaffen, die ohne Ansehen der Person und ohne ideologische Scheuklappen die Spielregeln von Demokratie und Rechtsstaat vertreten - wenn es sein muss auch gegen die Mächtigen. In Erdogans Türkei ist die Macht des Chefs stärker als die Institutionen, die diese Macht eigentlich im Zaum halten sollen.

Letztlich können nur die Wähler den Mann im Ministerpräsidentenamt auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Politiker der Erdogan-Partei AKP das Verhalten des Chefs als ernste Bedrohung ihrer Karrierechancen sehen. Mehr als ein halbes Dutzend Abgeordnete sind kurz vor den Kommunalwahlen im März aus der Partei ausgetreten. Das Jahr 2014 wird spannend für die Türkei.

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