Kommentar Tsunami: Zehn Jahre danach

Mit Trauer und Schmerz haben die Menschen weltweit am zweiten Weihnachtstag der Opfer des katastrophalen Tsunamis vor zehn Jahren gedacht. Über den Massengräbern der indonesischen Provinz Aceh wächst längst Gras. Am Strand des thailändischen Badeorts Khao Lak stehen wieder genau dort Hotels, wo der Tsunami vor zehn Jahren Tausende von Menschen totwalzte.

Auf Indiens Andaman- und Nikobar-Inseln versucht man, die Katastrophe zu vergessen. An der Ostküste Sri Lankas sind die Erinnerungen an die Naturkatastrophe durch die schrecklichen letzten Monate des Kriegs verdrängt worden, mit dem die Regierung in Colombo der tamilischen Unabhängigkeitsbewegung LTTE endgültig den Garaus machte.

Die Welt dreht sich weiter. Was 2004 noch wie eine unfassbare und unvergessliche Katastrophe erschien, wird in dem an natürlichen Desastern reichen Asien zum Teil lieber wieder verdrängt. Behörden verschieben just in diesen Tagen der Tourismus-Hauptsaison in Thailand lieber Evakuierungsübungen, um die Kundschaft nicht mit unliebsamen Erinnerungen zu behelligen. Selbst in Aceh, wo die meisten der rund 250.000 Todesopfer zu beklagen waren, leiden die Warnsysteme unter Schlendrian.

Aber Vergessen ist so lebensgefährlich wie Erinnerung lebensrettend sein kann. Das haben die Bewohner der indonesischen Insel Simeulue vor der Westküste Acehs gezeigt.

Sie erzählten ihren Kindern von der Katastrophe, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts passierte. Nach dem Erdbeben, das 2004 die Flutwelle auslöste, brachten sich die Bewohner der Insel rechtzeitig in Sicherheit.

In Thailand haben die Küstenbewohner zehn Jahre nach der Katastrophe noch immer nicht ihr Vertrauen in die Behörden wiedergefunden. Statt auf öffentliche Hinweise und Warnungen verlassen sie sich lieber auf ein informelles Netzwerk von Freunden und Bekannten, das sich offenbar zumindest über ganz Südostasien erstreckt. Innerhalb von Minuten werden sie per Mobiltelefon aufgeschreckt, wenn irgendwo in der Region ein stärkeres Erdbeben eine neue Flutwelle ausgelöst haben könnte.

Es mag sein, dass hier und da ein verwaistes Kennzeichen mit der Aufschrift "Fluchtroute" eher Verwirrung als Klarheit schafft. Aber insgesamt ist die Region - und sind auch Urlauber - besser für eine neue Katastrophe gerüstet als vor zehn Jahren. Tsunami wurde eine Allerweltsbegriff. Es ist schier unvorstellbar, dass naive Urlauber noch einmal zum Fischesammeln losrennen, sobald unmittelbar vor der Flutwelle das Meerwasser erst einmal für kurze Zeit verschwindet.

Gerade in den Zeiten, in denen Ausländerhass, religiöser Dogmatismus und Intoleranz gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden zunehmen, erinnert die weltweite Reaktion nach dem Tsunami an eine Grenzen übergreifende und überwindende Seite der Menschheit, die heutzutage häufig in Vergessenheit gerät. Die meisten von uns sind bereit zu Solidarität und Hilfe für und mit Menschen, die in tiefe Not gerieten. Im Falle des Tsunami war die Natur verantwortlich für das Desaster. Doch den Opfern ist es gleichgültig, ob ein Erdbeben oder eine Bombe ihr Haus dem Erdboden gleichmachte. Sie verdienen unsere Unterstützung auch, wenn sie aus Syrien geflohen sind oder im fernen Papua-Neuguinea leiden.

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