Kommentar Traum und Albtraum

Brüssel · Der schottische Traum könnte schnell zum Albtraum werden. Denn wenn es heute zu einer Demonstration für die Unabhängigkeit von Großbritannien kommen sollte, steht der junge Staat bei seinem Start 2016 vor allen Türen.

Zwar schweigt sich das offizielle Brüssel aus Respekt vor den inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaates aus. Aber intern haben alle EU-Spitzen klar gemacht: Schottland wäre nicht automatisch Mitglied der Union. Genauso denkt man in der Nato.

Was dann folgen würde, wäre im Gegensatz zu allem, was die Autonomie-Befürworter versprochen haben, ein quälender Marathon. Denn die Hoffnung, sozusagen eine Mitgliedschaft auf dem kleinen Dienstweg über den Rat der Staats- und Regierungschefs durchzusetzen, ist eine Illusion. Abgesehen davon, dass es diesen Weg laut EU-Vertrag nicht gibt, würde auch keine Einstimmigkeit erreichbar sein - selbst wenn London zustimmte. Denn Spanien und Belgien würden die eigenen separatistischen Bewegungen nicht auch noch ermuntern.

Vor der Autonomie kann ein EU-Beitritt aber nicht ausgehandelt werden, weil Brüssel nicht mit einem Staat Gespräche führen kann, der nicht selbstständig ist. 2016 müssten sich die Schotten hinten anstellen, kämen also nach den Verfahren mit den Balkanstaaten und der Türkei dran. Auch deshalb, weil sich der designierte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Übereinstimmung mit dem Europäischen Parlament festgelegt hat: In den kommenden fünf Jahren wird die Union nicht erweitert. Die Schotten wären auf Jahre draußen.

Ein dann folgendes normales Aufnahmeverfahren dürfte dem jungen Staat gar nicht schmecken. Bisher genießt man in Edinburgh stolz sein Pfund. Wer in die EU will, muss sich aber zum Euro bekennen. Auch andere Ausnahmen, von denen die Schotten als Teil des Vereinigten Königreiches profitieren, wären dahin. So würde die EU nicht nur einen Beitritt zum Schengen-System mit nach innen offenen Grenzen fordern und die Errichtung einer landeseigenen Zentralbank. Auch der heutige Briten-Rabatt wäre für die Schotten Geschichte. Ihr Beitrag für Brüssel müsste steigen.

Hinzu käme, dass sich Schottland in Brüssel wachsender Skepsis gegenübersehen dürfte. Denn was ist von der Solidarität eines Landes zu halten, das drei Jahrhunderte lang seine Ressourcen mit den Briten teilte und dies nun nicht mehr will? Wird dieses Land sich an den solidarischen Systemen der Union beteiligen?

Die EU hat keine Blaupause für eine solche Situation. Man weiß: Wenn die Schotten sich abspalten, werden Katalanen, Flamen oder Südtiroler folgen. In der Philosophie der europäischen Einigung aber ist für Separatismus kein Platz. Und so könnte die Gemeinschaft bei einem Sieg der Befürworter eines autonomen Schottlands kalt erwischt werden.

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