Kommentar Super-GAU Fukushima - Erweckungserlebnis

Als vor drei Jahren die Erde im Pazifik - stärker als gedacht - bebte und das Grollen der Platten einen Tsunami - höher als erwartet - lostrat, entwickelte sich der zweite Super-GAU nach Tschernobyl (1986). Das Unwahrscheinliche war wieder einmal passiert - und nicht in einer maroden Diktatur, sondern beim Hightech-Musterknaben Japan.

Die Physikerin Angela Merkel hatte als Umweltministerin die irrationale Atomdebatte stets mit dem Satz begleitet: "Die Deutschen haben kein Verhältnis zur Wahrscheinlichkeit." Damit meinte sie die GAU-Faustformel "einmal in 10 000 Jahren", worauf die Realität in Fukushima mit "zweimal in 25 Jahren" antwortete. Es schien eine Naturkatastrophe zu sein - eine Gefahr, die, gemessen "am Maßstab der praktischen Vernunft", fernab des Erwarteten lag. So hatte das Bundesverfassungsgericht 1978 zur atomaren Risikofrage formuliert, und fortan unterschied man in Deutschland das - beherrschbare - Risiko vom Restrisiko.

"Unsere Atommeiler sind sicher": Das sagten alle Regierungen. Manchmal fügten sie noch "nach menschlichem Ermessen" hinzu. In Japan begann das menschliche Versagen, indem man das prinzipiell Mögliche für unmöglich erklärte, weil es extrem unwahrscheinlich erschien.

Darf aber extrem Unwahrscheinliches ausgeblendet werden, wenn die Folgen unwahrscheinlich extrem sein können? Das menschliche Versagen beginnt - auch das eine Lehre von Fukushima - mit der Lebenslüge, wonach Restrisiko und Profit unabhängige Größen seien. Tatsächlich rechnet es sich nur, wenn beides hoch ist und GAU-Folgen sozialisiert werden (dürfen). Dazu gehören kleingerechnete Erdbeben ebenso wie ausgeblendete Flugzeugabstürze.

Nach Fukushima sagte Merkel, inzwischen Bundeskanzlerin, dass "die unwahrscheinlichsten Dinge plötzlich Realität werden" - als sei die Wahrscheinlichkeits-Exegese von einst falsch gewesen oder als habe es jemals eine Versicherung gewagt, ein Kernkraftwerk zu versichern und damit gegen den "Maßstab praktischer Vernunft" zu verstoßen. Der Super-GAU provozierte eine Art Erweckungserlebnis im Kanzleramt: die Geburt der Energiewende. Nun sind nicht mehr Atommeiler, sondern klimaschädliche Kohlekraftwerke die Brückentechnologie zu dem Fernziel, eines Tages mit Sonne, Wind & Co. alle Restrisiken zu verflüchtigen.

Global spielt diese Risikoverlagerung keine Rolle. Aktuell produzieren weltweit mehr als 430 Atommeiler Strom und der Gasausstoß aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe erreicht von Jahr zu Jahr immer neue Rekordwerte. Das erdumspannende Restrisiko des Klimawandels und das der Kernspaltung: Eine redliche und rationale Weltdebatte darüber, was lebenden und nachfolgenden Generationen zugemutet werden darf, gab und gibt es nicht.

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