Streik bei der Bahn - In Geiselhaft

BERLIN · Rund 5,5 Millionen Menschen reisen jeden Tag mit der Bahn. Darunter sind Pendler, die kein Auto haben, mit dem Nahverkehrszug zur Arbeit fahren. Darunter sind Geschäftsreisende, die etwa von Köln nach Frankfurt lieber mit dem ICE fahren statt mit dem Auto, weil der Zug schneller ist.

Und darunter sind ältere Menschen, die mit dem Zug drei, vier Mal im Jahr für einen Verwandtenbesuch zur Tochter und zu den beiden Enkeln fahren. Sie alle sind betroffen, wenn beim Staatsunternehmen Bahn gestreikt wird. Erstaunlich viele haben Verständnis, etliche sind aber auch verärgert. Ihr Zorn richtet sich gegen das Unternehmen Bahn, über das zu ärgern ohnehin so etwas wie ein Volkssport ist.

Dabei ist die Bahn in dem wieder eskalierenden Konflikt eher in Schutz zu nehmen. Sie ist Leidtragende eines Machtkampfes zwischen zwei konkurrierenden Gewerkschaften, sie wird in Geiselhaft genommen ebenso wie die Fahrgäste. Sie ist Opfer wie der Pendler, wie der Geschäftsreisende, wie die Oma. Es tobt nämlich kein gewöhnlicher Arbeitskampf.

Es ist ja beileibe nicht so, dass die Arbeitnehmervertreter, wie sonst bei einer Tarifauseinandersetzung üblich, zunächst am Verhandlungstisch Platz genommen und die Kompromissbereitschaft der Arbeitgeberseite hinreichend ausgelotet und dann als Ultima Ratio quasi zum Ausstand aufgerufen hätten. Nein. Bei der Bahn geht es zwar auch um mehr Lohn für Lokführer und Bordpersonal, es geht auch um weniger Arbeitszeiten.

Nur nebenbei: Bei den Forderungen zum Lohn und zur Arbeitszeit werden sich viele Beschäftigte aus anderen Branchen verwundert die Augen reiben: Seit 2007 sind die Tariflöhne bei der Bahn um 24 Prozent gestiegen. Nun wollen die Lokführer einen Zuschlag von insgesamt rund 15 Prozent, wenn man die Arbeitszeitverkürzung mit einrechnet! Nicht schlecht. Oder?

Abgesehen vom Geld und der Arbeitszeit geht es um noch etwas anderes: Zwei Bahngewerkschaften haben da einen Strauß auszufechten. Und nicht nur das: Es tobt, wenn man so will, ein Existenzkampf zwischen der großen EVG und der kleinen Lokführergewerkschaft. Die Lokführergewerkschaft GDL kämpft ums Überleben. An dieser Stelle kommt die Politik ins Spiel. Eigentlich sollte sie sich ja aus der Auseinandersetzung der Tarifvertragsparteien heraushalten. Doch die Koalition wird in Kürze ein Gesetz zur Tarifeinheit vorstellen. Dies sieht vor, dass in einem Unternehmen für Menschen, die den gleichen Job machen, nicht zwei verschiedene Tarifverträge gelten dürfen.

Wenn das Gesetz erst einmal gilt, hätte es Konsequenzen für viele Unternehmen, nicht nur für die Bahn. Damit wäre klar, dass nur noch eine Gewerkschaft, nämlich die stärkste, in einem Unternehmen, die Verhandlungen mit den Arbeitgebern führen darf.

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