Kommentar Sammelsurium

BRÜSSEL · Den europäischen Partnern der Bundesrepublik wurde in diesem Jahr viel Geduld abverlangt: Wahlen im gewichtigsten Mitgliedsstaat, beim großen Euro-Zampano - da hieß es Atem anhalten und das Ergebnis abwarten.

Als der deutsche Wähler gesprochen hatte, war in den Hauptstädten und bei den EU-Institutionen Verständnis für deutsche Gründlichkeit bei der Koalitionsbildung gefordert. Weitere neuneinhalb Wochen gingen ins Land, bis das schwarz-rote Kursbuch beschlossene Sache war. Das mag die Erwartung geweckt haben, da seien europapolitisch große Dinge ausgetüftelt worden. Denen wird man sagen müssen: Das könnt ihr vergessen. Es gibt viel ausgetretenen Pfad und wenig Neuland.

Das Aufregendste war schon, dass auf beiden Seiten echte EU-Politiker an den Berliner Verhandlungen beteiligt wurden. Das ändert nichts daran, dass die Europapolitik für die Koalitionäre programmatisch zweitrangig ist. Das Bewusstsein, dass der Bürger mit "Brüssel" und allem, was damit zusammen hängt, am liebsten nicht behelligt wird, durchweht den Text.

Ansonsten wird ein Set aus Schlüsselbegriffen, die dem einen oder dem anderen Koalitionspartner wichtig sind, in immer neuen Kombinationen dargeboten: "Konsolidierung", "Strukturreformen", "Innovation" - das ist Kernvokabular der Union. "Soziale Verträglichkeit", "Beschäftigung" "Zukunftsinvestitionen" - da fühlt sich der Sozialdemokrat angesprochen. "Wachstum" ist beiden Seiten ein Herzensanliegen und insofern das gegebene Bindeglied. Zusammen ergibt das einen Strauß aus Wichtigkeiten, die sich theoretisch nicht unbedingt gegenseitig ausschließen, deren Zusammenwirken in der Praxis aber abzuwarten bleibt.

Was genau wird aus der Wirtschafts- und Währungsunion? Oder dem EU-Beitritt der Türkei? Oder den phantomartigen "Kampfgruppen" der EU? Oder der elefantösen EU-Kommission? Mal sehen, bescheidet uns der Vertrag. Er drückt es nur umständlicher aus ("Die Kommission braucht ein stringentes und effizientes Kollegium mit klaren Zuständigkeiten").

Das entspricht ebenso einem europapolitisch unterprofilierten Wahlkampf wie dem vagen Auftrag, den der Souverän am 22. September erteilt hat. Der zielte nämlich auch in Sachen EU keineswegs auf den viel beschworenen "Politikwechsel". Der Wähler ist vielmehr einigermaßen zufrieden, wenn die Kanzlerin den Euro, vor allem aber deutsche Besitzstände so zäh verteidigt, dass die Bundesrepublik in der Krise vergleichsweise glänzend dasteht.

Weswegen es keiner gewaltigen Anstrengung der Union bedurfte, die SPD zum Verzicht auf einen Schuldentilgungsfonds zu zwingen - die Genossen kennen ihre Pappenheimer und wissen, dass eine Vergemeinschaftung roter Zahlen höchst unpopulär ist.

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