Kommentar Regierungsbildung in Italien - Gespaltenes Land

Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano hat den moderaten Sozialdemokraten Enrico Letta mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Die Entscheidung ist ein Experiment. Die politischen Kräfte, die sich im Wahlkampf bis aufs Blut bekämpften, sollen nun Reformen voranbringen.

Die Entscheidung für die Person Enrico Lettas als Vertreter einer jüngeren, pragmatischen Generation stimmt zuversichtlich. Doch sie kann die tiefe Spaltung Italiens nur mühsam übertünchen. Niemand kann zu diesem Zeitpunkt vorhersagen, welche Effizienz eine von der Berlusconi-Partei PdL und den in Auflösung befindlichen Sozialdemokraten mitgetragene Regierung hat. Der Verdacht, allein taktische Manöver auf Kosten der Italiener hätten zu diesem Ergebnis geführt, drängt sich auf.

Italien ist ein gespaltenes Land. Auf der einen Seite stehen die Vertreter der Institutionen, die sich nicht imstande zeigten, Verantwortung zu übernehmen und in Napolitano ein bald 88 Jahre altes Kindermädchen herbeirufen mussten, um sich von ihm an den Ohren zur Regierungsbildung schleifen zu lassen. Auf der anderen Seite ist die große Mehrheit der Italiener, die Veränderung herbeisehnt und sie nicht bekommt.

Napolitano selbst trifft keine Schuld. Er hatte glaubwürdig angekündigt, aus Altersgründen nicht mehr antreten zu wollen. Weil im Parlament jedoch Einzelinteressen mehr gelten als das Gemeinwohl, konnten sich die parlamentarischen Kräfte auf keinen anderen Kandidaten einigen.

Insbesondere Italiens Reformkräfte haben Schuld an dieser Misere, die absurde Züge trägt. Vier Monate ist es her, dass die von einer großen Koalition getragene Regierung unter Ministerpräsident Mario Monti ihr Vertrauen im Parlament eingebüßt hat. Nun erlebt Italien unter nur unwesentlich veränderten Bedingungen eine Neuauflage und hat schlichtweg Zeit verloren. Vier Monate wurden in Ränkespielen vergeudet, für die zunächst Silvio Berlusconi verantwortlich war.

Berlusconis Politik ist von Eigeninteressen geleitet. In dieser Hinsicht ist dem nachhaltigen Erfolg einer von seiner Partei mitgetragenen großen Koalition zu misstrauen. Schließlich drängte er Mario Monti zum Rücktritt. Aber es ist umso unverzeihlicher, wie Italiens Linke angesichts der Chance, die sich ihr geboten hat, versagte.

Ausgerechnet die politischen Kräfte, die den Wandel glaubwürdig versprochen haben, sind in die von ihnen kritisierten Mechanismen verfallen. Die Demokratische Partei rieb sich in internen Kämpfen auf. Die Grillo-Bewegung blockierte eine Regierungsbildung und spekuliert weiter auf den Zusammenbruch des Systems. "Die Republik ist tot", behauptete Beppe Grillo jetzt drastisch. Sollte es wirklich so weit kommen, muss auch er sich zu den Totengräbern zählen lassen. Enrico Letta startet nun einen letzten, verzweifelten Wiederbelebungsversuch.

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