Kommentar Quälender Prozess

Der demokratische Rechtsstaat steht und fällt mit dem Vertrauen in seine Institutionen. Und damit ist er in Sachen NSU schon fast gefallen. Denn wo Blindheit, Willkür und Unvermögen herrschen, geht dieses Vertrauen verloren. Im Fall des rechtsextremistischen "Nationalsozialistischen Untergrunds" ist das passiert und, wenn die Anzeichen nicht trügen, wird es weiter passieren.

Es begann mit einem unglaublichen Unvermögen der Sicherheitsbehörden, die nach den Taten von Köln und anderswo angeblich in alle Richtungen ermittelten, aber auf dem rechten Auge konsequent blind blieben. Da muss man gar nicht Absicht unterstellen, die Fahrlässigkeit der Ermittlungen reichte absolut aus, um zu verheerenden Folgen zu führen. Beispielsweise der, dass die Opfer von Köln zu potenziellen Tätern wurden. Zeugenhinweise wurden ignoriert, Primärquellen vergessen, Beweisstücke falsch gewertet.

Die Fehler in der NSU-Mordserie mit zehn zumeist türkischstämmigen Opfern addierten sich zur größten Ermittlungspanne der Nachkriegszeit. Da war und ist potenzielle Verharmlosung im Spiel. Wer sich an die ungeheure Akribie der Ermittlungen gegen die "Rote Armee Fraktion" in den siebziger Jahren erinnert - Ermittlungen, die so gut wie jeder Bürger praktisch zu spüren bekam, etwa durch intensivste Polizeikontrollen - der kann sich nur wundern, wie wenig bemerkbar die Ermittlungen gegen den gewalttätigen Rechtsextremismus verliefen.

Auf die Fehler der Sicherheitsbehörden folgte das Lamento der Politik. Folgte die angeblich große Aufräumarbeit in den Behörden, die bis heute aber vor durchgreifenden Strukturreformen haltmacht. Noch immer arbeiten 16 Landesämter für Verfassungsschutz - oft genug gegeneinander. Was den obersten Sicherheitspolitiker der Republik, den Bundesinnenminister (ausgerechnet ihn!), gestern nicht daran hinderte, die Staatsanwälte im NSU-Verfahren zu besonderer "Sorgfalt" anzuhalten. Ja, was denn sonst, Herr Friedrich?

Also blieb und bleibt es der Justiz vorbehalten, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Doch so, wie sich das Münchner Mammutverfahren anlässt, fahren ihn die Richter noch weiter in den Dreck. Vom Vorsitzenden Richter gibt es Geschichten, die an seiner Souveränität Zweifel aufkommen lassen. Wie es ihm gelang, das konstitutive Element jedes Strafprozesses, die Öffentlichkeit, zu beschädigen, hat einmalige Qualität. Da benimmt sich ein Elefant im Porzellanladen noch rücksichtsvoll.

Erst die Medien aus den Heimatländern der Opfer außen vor lassen, dann Heilungshinweise des Bundesverfassungsgerichts ignorieren und anschließend per Los dafür sorgen, dass Musiksender und Anzeigenblätter berichten dürfen, dazu gehört schon was. Gestern hat der Prozess begonnen. Hoffentlich wird nicht auch er ein quälender. Der Auftakt lässt genau dies befürchten.

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