Kommentar Neuwahlen in der Türkei - Das System versagt
Es ist nicht gut bestellt um ein Land, dessen Politiker nach einer Wahl trotz einiger möglicher Varianten nicht in der Lage sind, eine neue Regierung zu bilden.
Die Türkei ist so ein Land. Dort treiben die Politiker seit der Juni-Wahl ihre Spielchen und stürzen sich jetzt in den Wahlkampf vor den im November erwarteten Neuwahlen. Das türkische System versagt.
Verantwortlich für die Lage ist nicht nur der Ehrgeiz von Recep Tayyip Erdogan. Der Präsident muss sich zwar vorwerfen lassen, dass er das Wahlergebnis vom Juni, das seiner Partei AKP den Verlust der absoluten Mehrheit im Parlament einbrachte, nie akzeptiert hat. Erdogan wolle so lange wählen lassen, bis ihm das Ergebnis in den Kram passe, lautet der Vorwurf. Die AKP ordnet sich ihrem Über-Chef unter, obwohl dieser sich laut Verfassung eigentlich aus der Parteipolitik heraushalten muss.
Doch Erdogan kann sein Spiel nur deshalb spielen, weil die anderen Akteure ihn lassen. In der AKP ist seine Macht so groß, dass Ministerpräsident Ahmet Davutoglu den Neuwahlen zustimmt, obwohl er lieber eine Koalition gebildet hätte. Die Opposition im Parlament bringt keine Regierung ohne die AKP zustande, obwohl die Erdogan-Partei keine Mehrheit mehr hat. Die Rechtsnationalisten beispielsweise wollen auf keinen Fall, dass die Kurden auch nur in die Nähe der Macht kommen.
Blockierer, Taktierer und Nein-Sager bestimmen das Bild. Während die Politiker vor sich hinwurschteln, geht die Gewalt weiter, und die Lira stürzt ab. Die Türkei als Hort der Stabilität und des Wirtschaftsaufschwungs? Das war gestern. Heute ist die Türkei ein Land, dessen politische Klasse nicht über den eigenen Tellerrand hinausblicken kann.
Das Scheitern der Suche nach einer Koalition ist deshalb auch ein Zeichen für den Mangel an Kompromissbereitschaft, der die politische Kultur in der Türkei insgesamt auszeichnet. Erdogan will die Macht nicht mit Anderen teilen - und diese Anderen bringen keinen Neuanfang zustande, weil sie genau wie Erdogan den Kompromiss mit Schmach und Niederlage verwechseln. So hat Ankara die berühmte Maxime, wonach die Politik die Kunst des Möglichen ist, auf den Kopf gestellt: In der Türkei ist Politik derzeit die Kunst, aus lauter Möglichkeiten nichts zu machen.
Bezahlen werden das die Bürger. Denn unterdessen wächst die Gefahr durch den Islamischen Staat an der syrischen Grenze. Gleichzeitig hat eine neue Welle von Anschlägen der PKK-Kurdenrebellen und der linksextremen Gruppe DHKP-C begonnen. Die Wirtschaft geht wegen der anstehenden Zinserhöhungen in den USA schwierigen Zeiten entgegen. Statt sich um diese Herausforderungen zu kümmern, ziehen die Politiker jetzt bald wieder über die Marktplätze. Und wozu das alles? Umfragen sagen voraus, dass die Neuwahlen nicht viel an der Parteienkonstellation im Parlament ändern werden.