Kommentar Merkels Kehrtwende ist ein Sieg für Europa

Berlin · Angela Merkel hat sich am Freitag dem Druck ihres Koalitionspartners, dem Druck aus dem Europäischen Parlament und aus den eigenen Reihen gebeugt und unterstützt jetzt öffentlich die Kandidatur von Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten. Das ist ein Sieg für Europa, aber kein Sieg für die erste Dame Europas.

Gewählt ist er damit noch längst nicht, aber im Rückblick könnte sich die Unterstützungs- Erklärung der deutschen Kanzlerin als der entscheidende Etappensieg erweisen.

Merkel wird sich für dieses Ja wenig kaufen können, denn sie hat die Chance verpasst, den Vorreiter zu spielen. Sie hat mit ihrem Zögern vielmehr Zweifel an der Lauterkeit ihres europäischen Engagements wachsen lassen. Das hatte schon im Wahlkampf begonnen. Juncker, der frühere luxemburgische Premier, wurde zwar als Spitzenkandidat akzeptiert, aber kaum plakatiert. In erster Linie mit dem Argument, die Kanzlerin "ziehe" auch im Europawahlkampf mehr als alle anderen christdemokratischen Politiker (was richtig war), aber in zweiter Linie spielten da auch Sym- und Antipathien eine Rolle.

Kurz gesagt: Merkel schätzt Juncker nicht. Er ist ihr zu mächtig und zu eigenständig. Der Luxemburger - gefühlt ein halbes Jahrhundert in der europäischen Sache unterwegs - führt eine klare Sprache und lässt sich gleichzeitig nicht leicht führen. Für die Kanzlerin wie für viele ihrer Amtskollegen ist diese Qualität schon immer ein Alarmsignal gewesen. Merkel hätte auch mit einem Walter Hallstein oder einem Jacques Delors oder anderen Guten unter den Kommissionspräsidenten ihr Problem gehabt. Schwache Kommissionschefs lassen sich leichter dirigieren. Dennoch: Die Kanzlerin brauchte keine Woche um zu erkennen, dass sie dieses Mal auf verlorenem Posten stehen würde. Das hat Glaubwürdigkeits- und Machtgründe. Die CDU Deutschlands hätte ihre Glaubwürdigkeit verloren, wenn sie im Fall Juncker nicht den Rückzug vom Rückzug gemacht hätte. Denn sie ist mit dem Bekenntnis in den Wahlkampf gezogen, der künftige Kommissionspräsident werde aus den Reihen der Spitzenkandidaten für die Europawahl kommen, weil der Lissaboner Vertrag dem Parlament dieses Recht gebe.

Das stimmt zwar nicht, aber Merkel hat dem Versprechen im Wahlkampf eben nicht widersprochen. Rechtlich hat sie zudem Recht. Das Vorschlagsrecht liegt bei den Regierungschefs, die dabei das Wahlergebnis "berücksichtigen" sollen; das Parlament muss zustimmen, Wer am Tag nach der Wahl aber nach dem Motto handelt: Was schert mich mein Reden von gestern? wird unglaubwürdig.

Die Spitzen des neugewählten Parlaments haben - den Zuwachs an Macht auskostend - klug und schnell gehandelt. Sozialisten und Christen haben sich über die Spitzenkandidatur kein wochenlanges Hin und Her geliefert, sondern sich schnell geeinigt. Damit war klar: Dieses Parlament lässt sich nicht auseinanderdividieren. Merkel wird jetzt einige Mühe haben, reservierte Europäer wie die britische oder zweifelhafte wie die ungarische Regierung ins Boot zu holen. Aber es wird ihr nach alter europäischer Kungelregel gelingen, schließlich gibt es genug Führungspositionen neu zu besetzen. Und wenn es ganz wunderbar läuft in EU-Europa, werden mit der Juncker-Kandidatur sogar konkrete Inhalte für die kommenden fünf Jahre verbunden. Das wäre dann endgültig ein Sieg für Europa.

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