Kommentar Konsum und Armut - Unwuchten

BONN · Wer profitiert vom Wirtschaftsaufschwung? Seit vier Jahren läuft der Konjunkturmotor in Deutschland rund, die Perspektiven fürs nächste Jahr sind ausgezeichnet. Viele Unternehmen und Verbraucher blicken optimistisch wie selten nach vorne. Gleichzeitig berichtet der Wohlfahrtsverband von einer kaum verbesserten Armutsentwicklung in Deutschland.

In einigen Regionen wie dem Ruhrgebiet geht es sogar ungebremst abwärts. Wie passt das zusammen?

Das aktuelle deutsche Wirtschaftswunder hat offenbar auch seine dunklen Seiten. Der Aufschwung geht immer noch an zu vielen Menschen vorbei. Dafür gibt es mehrere Gründe. Am Pranger stehen Firmen, die ihre Gewinne kurzfristig mit Niedrigstlöhnen oder Tarifflucht ausgebaut haben, die massiv Leiharbeiter einsetzen oder Werkverträge missbrauchen. Minilöhne und Millionenboni - dieses Missverhältnis beeinträchtigt in Deutschland seit Jahren das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft.

Allein den Arbeitgebern die Verantwortung für die Unwucht im Aufschwung zu geben, wäre aber falsch. Erhebliche Defizite gibt es auch bei den potenziellen Arbeitnehmern. Darauf lassen die jüngsten Arbeitslosenzahlen schließen. So hat die robuste Konjunktur zwar dazu geführt, dass in Deutschland so viele Menschen beschäftigt sind wie nie zuvor, doch die Arbeitslosenquote ist zuletzt sogar leicht gestiegen.

Arbeitsmarktexperten zufolge wandern Fachkräfte aus ärmeren Euroländern nach Deutschland ein und finden hier sofort Arbeit. Dagegen lassen sich viele Arbeitslose hierzulande wegen erheblicher Defizite nur noch sehr schwer oder gar nicht mehr in neue Jobs bringen. In ohnehin problematischen Regionen wie dem Ruhrgebiet kommt mit den Spätfolgen einer falschen Einwanderungspolitik dann Eins zum Anderen.

Die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns als zentrales wirtschaftspolitisches Projekt der neuen Bundesregierung symbolisiert den Unterschied zwischen dem heutigen Wirtschaftswunder und dem vor 50 Jahren ganz gut. Ging es seinerzeit darum, in einer Sozialpartnerschaft die Kräfte für den Aufbau zu bündeln und die Kosten zu teilen, drängt sich heute schon fast der Eindruck auf, der Bund entscheide zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten wie ein Scheidungsrichter über den Zugewinnausgleich.

Auch die Lager in sich zeigen Auflösungserscheinungen: Die Bindung an Gewerkschaften oder Arbeitgeberorganisationen hat nachgelassen, ebenso wie an politische Parteien oder Kirche. Dahinter verbirgt sich eine tiefere gesellschaftliche Unwucht: Die Verbindlichkeit und Reichweite gemeinsamer Werte schwindet. Deutschland baut seine Position als Wirtschaftsmacht in Europa weiter aus, aber der Erfolg schweißt nicht zusammen.

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