Kommentar Karlsruhe und der Euro: Souverän

Da wird sich am Mittwochmorgen mancher die Augen gerieben haben: Dass das Bundesverfassungsgericht faktisch den europäischen Fiskalpakt und den Stabilitätsmechanismus ESM kippen würde, konnten nur Phantasten glauben.

Dass es aber diese Instrumente in so weitem Umfang billigte, wie es das mit seinem wegweisenden Urteil getan hat, überrascht denn doch. Zugegeben: Das ist noch nicht die Entscheidung in der Hauptsache. Aber es ist die Entscheidung, auf die ganz Europa gewartet hat, damit es jetzt handeln kann.

Der Weg ist frei für den Bundespräsidenten, die Gesetze zu unterschreiben. Der Weg ist frei für die europäischen Institutionen, die Stabilitätsmechanismen in Kraft zu setzen. Das ist deshalb ein guter Tag für Europa gewesen. Und ein guter Tag für die Demokratie. Denn Andreas Voßkuhle und seine Mitstreiter haben - der bisherigen Linie des höchsten deutschen Gerichts treu bleibend - die Rechte des Parlaments wieder einmal gestärkt. Auch wenn es um Europa geht.

Karlsruhe hat dabei klug abgewogen, denn seine Entscheidung bindet formal nur die deutschen Verfassungsorgane - tatsächlich aber hat sie unmittelbare Rückwirkung auf die europäischen Institutionen. Hätten die deutschen Richter gestern Nein gesagt, wäre die Euro-Stabilitäts- und Vertrauenskrise im Handumdrehen verschärft worden.

So ist es nicht gekommen, und das ist gut so. Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass die Richter die Rechte des Bundestages höher bewerten als mögliche Verschwiegenheitspflichten der ESM-Mitarbeiter. Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass eine Erhöhung des deutschen Anteils am ESM nicht ohne Zustimmung der Abgeordneten zulässig ist. Das kann man Deckelung nennen, tatsächlich ist es das nicht: Es ist nur die Betonung der Pflicht zur Zustimmung des Souveräns.

Ja, das Gericht geht noch weiter. Wann die Verpflichtungen soweit gingen, dass der Bundestag keinen Spielraum mehr habe, müsse dem "weiten Einschätzungsraum" des Parlaments überlassen bleiben. Und die Frage zu entscheiden, ob das ganze Rettungspaket sinnhaft und zweckmäßig sei, sei und bleibe Aufgabe der Politik. Das ist souverän entschieden, sehr souverän. Und Voßkuhle setzt noch einen drauf, indem er die Bemühungen der Bundesregierung ausdrücklich lobt, die Krisenmechanismen "zu verrechtlichen und demokratisch rückzubinden".

Alles in allem ist dies deshalb eine Entscheidung, die anders als frühere, keinerlei Ohrfeigen an die Politik verteilt. Eine Entscheidung, die dem Souverän gibt, was des Souveräns ist. Aber auch eine Entscheidung, die deutlich macht: Was europäisch notwendig ist, kann national nicht mehr allein entschieden werden. Der Spagat zwischen europäischer Entscheidungsfindung auf der exekutiven Ebene und Bewahrung der nationalen Souveränität auf der legislativen Ebene wird immer schwieriger. Irgendwann, vielleicht schon bald, wird deshalb ein neuer Rechtsrahmen notwendig werden. Angela Merkel hat diese Notwendigkeit längst erkannt, wie ihr immer deutlicheres Eintreten für einen neuen europäischen Vertrag zeigt. Aber das ist noch Zukunftsmusik.

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