Kommentar Gut in Form

Die Abgesandten der großen deutschen Gewerkschaften, die heute in Berlin einen neuen Vorsitzenden ihres Dachverbandes DGB wählen, haben Grund zur Zufriedenheit wie lange nicht. Mit der Rente mit 63 befindet sich eine ihrer zentralen Forderungen im Gesetzgebungsverfahren. Das gleiche gilt für den Mindestlohn, der zwar auch im Arbeitnehmerlager lange umstritten war, aber nun als probates Mittel gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse anerkannt ist.

Der viele Jahre lang alarmierende Mitgliederschwund ist fast gestoppt, bei der Nachwuchszahl gibt es sogar ein leichtes Plus. Und auf der politischen Ebene ist den Arbeitnehmervertretern mit der Abwahl der FDP aus dem Bundestag der letzte Gegner abhanden gekommen. Mit allen anderen Parlamentsparteien verbindet die Gewerkschaften eine mehr oder weniger große Schnittmenge.

Die Tatsache, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht beim klingend "Parlament der Arbeit" genannten DGB-Bundeskongress in Berlin auftritt, bedeutet definitiv nicht, dass die Kanzlerin die Gewerkschaften gering schätzt. Ganz im Gegenteil. Die Kanzlerin ist sich der wiedererstarkten politischen Macht der Arbeitnehmerorganisationen vollauf bewusst. Gerade weil die Riege der heutigen Gewerkschaftsführer weniger betonköpfig und gestrig auftritt als ihre Vorgänger, die Aktionsformen weniger ritualisiert sind als früher.

Reiner Hoffmann, den die Delegierten heute zum neuen DGB-Vorsitzenden wählen, ist ein gutes Symbol für diesen Wandel. Klassenkämpferische Parolen sind diesem Funktionärstyp wesensfremd. Der Wandel der Arbeitswelt ist zumindest bei einem Teil der Arbeitnehmervertreter angekommen.

Nach einem Jahrzehnt voller Kämpfe und mit vielen Niederlagen erscheinen die Gewerkschaften heute gestärkt. Die durch die Auseinandersetzungen um die Hartz-Reformen errungene und erzwungene größere parteipolitische Unabhängigkeit hat ihnen eher genutzt als geschadet. Auch wenn in der Union wegen der Rentenreform gegrummelt und von Merkel eine neue Agenda-Politik gefordert wird - die Kanzlerin scheint wenig geneigt, sich auf Krawallkurs begeben zu wollen.

Zu umfassender Selbstzufriedenheit besteht auf Gewerkschaftsseite allerdings kein Grund. Politische Erfolge wie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Zeichen der Schwäche. Denn wenn die Gewerkschaften in der Fläche und in allen Branchen stark genug wären, um angemessene Einkommen durchzusetzen, müsste nicht der Gesetzgeber eingreifen und die Tarifautonomie beschneiden. Ähnliches gilt für die Entwicklung der Mitgliederzahlen. Zwar sind die sklerotischen Tendenzen gestoppt. Aber angesichts des Beschäftigungsniveaus auf Rekordhöhe müssten die Zahlen eigentlich viel besser sein. Bedrohlich für die Großgewerkschaften unter dem Dach des DGB sind auch die Erfolge von Berufsverbänden wie der Pilotenvereinigung Cockpit oder des Lokführerbundes GdL.

Die aufgeräumte Stimmung auf dem Berliner Bundestreffen werden solche Gedanken nicht trüben können. Nicht zu Unrecht könnte die Parole im Gewerkschaftslager lauten: Wir sind wieder wer.

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