Kommentar Große Koalition - Verkehrte Welten

Die politische Debatte in Deutschland entwickelt sich immer mehr zu einer Debatte über Nebensächlichkeiten. Seit fünf Tagen liegt der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vor. Aber debattiert wird nicht darüber, welche Inhalte er hat und welche nicht (er hat bedeutsame).

Debattiert wird auch nicht darüber, ob Union oder SPD mehr von ihren Vorstellungen haben durchsetzen können (die SPD ist klarer Sieger). Debattiert wird auch nicht über die Frage, ob ein Koalitionsvertrag überhaupt die politische Arbeit der kommenden vier Jahre regeln kann (kann er nicht).

Debattiert wird über die Frage, ob die SPD ihre Mitglieder zum Ergebnis befragen darf. Die rechtliche Antwort: Sie darf. Nicht nur ZDF-Moderatorin Marietta Slomka verwechselt die Ebenen, wenn sie das imperative Mandat hier ins Spiel bringt, also die Frage, ob die Abgeordneten durch die Parteimitglieder in ihrer Freiheit eingeschränkt werden.

Es gibt in Deutschland genau einen Verfassungsrechtler, der explizit gravierende Bedenken gegen den Mitgliederentscheid geäußert hat. Und genau dieser Professor setzt hinzu, das eigentliche Problem sei nicht der Mitgliederentscheid, sondern die große Koalition selbst, weil sie das Gewicht des einzelnen Abgeordneten schmälere.

Da hat er wohl Recht. Also muss es in der Debatte um die politische Frage gehen, und da ist die Antwort eindeutig: Beteiligung, mehr Mitsprache kann keine Sünde sein, erst recht nicht, wenn das erklärte Wahlziel ein anderes war. Das Problem kann doch im Ernst nicht darin bestehen, dass Koalitionen früher von einzelnen Personen, höchstens Vorständen, ausgehandelt und gebilligt wurden, heute von einer Mitgliedschaft. Horst Seehofer hat recht.

Wenn das SPD-Vorgehen problematisch wäre, wären es die Abstimmungsprozeduren von CDU (kleiner Parteitag) und CSU (Vorstand und Landesgruppe) allemal. Also: Wenn die SPD Willy Brandts Aufruf, mehr Demokratie zu wagen, mehr als 40 Jahre danach folgt, handelt sie auch politisch richtig. Mit einer Einschränkung, die allerdings gravierend ist: Das Quorum von 20 Prozent ist skandalös niedrig.Wenn sich nur ein Fünftel der Mitglieder beteiligen muss, damit das Votum Gültigkeit hat, zeugt das von der Angst der Parteioberen vor dem neuen Instrument.

Und dennoch steht die SPD mit ihrer innerparteilichen Demokratie damit weit vor den anderen. Kaum vorzustellen, was geschähe, wenn auch die Union sich einem derartigen Entscheidungsprozess öffnete. Sie hat in den Verhandlungen so viele Zugeständnisse gemacht, dass SPD-Chef Sigmar Gabriel wie der eigentliche Gewinner der Bundestagswahl dasteht. Das wäre Stoff über Stoff für eine inhaltliche Debatte. Die aber, so darf vermutet werden, soll nicht stattfinden, und deshalb ist die Verfassungsdebatte über die SPD ein willkommenes Ablenkungsmanöver.

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