Kommentar Die Union und der Altkanzler - Der ganze Kohl

Politik - wie Wirtschaft - funktioniert einem Pendel gleich. Man weiß das von Konjunkturzyklen, von Regierungswechseln, von Tendenzen der Liberalisierung hin zu Tendenzen der Erstarrung. Helmut Kohl und die Bewertung seiner Leistung machen da keine Ausnahme.

Eine ganze Generation von Intellektuellen hat sich in den 70er und 80er Jahren darin gefallen, den damals gar nicht so Konservativen als tumben Tor aus der Pfalz abzutun, als "Birne" und was es sonst noch an Abfälligem zu lesen gab. Der Beifall für den erfolgreichsten Christdemokraten Deutschlands nach Konrad Adenauer hat sich immer in Grenzen gehalten, bis, ja bis die Mauer fiel.

Da wurde aus dem Langzeitkanzler, dessen Hauptmerkmal das Aussitzen gewesen sei, der Kanzler der Einheit. Das Urteil war so einfach wie falsch - und ist es bis heute. Zugegeben: Der Mann aus Oggersheim hat durch seine Spendenaffäre das Seine dazu getan, hat es seinen - auch innerparteilichen - Gegnern leicht gemacht, ihn unter Normalmaß herabzuwürdigen.

Verdient hat er das nicht. Die Union, allen voran die jetzige Bundeskanzlerin, Kohls Ziehkind Angela Merkel, hat das instinktiv gespürt, als sich der 30. Jahrestag seiner Wahl zum Bundeskanzler näherte. Am Montag ist es soweit - und bis dahin will die Union ihren Frieden mit ihrem Altkanzler gemacht haben. Nach dem Festakt in Bonn gestern die Ehrung in der Bundestagsfraktion, dann noch ein Festakt - und überdies Kohl als Briefmarke, das gab es bisher zu Lebzeiten nur für Bundespräsidenten und Päpste.

Irgendwo dazwischen liegt Helmut Kohl. Er war - zunächst einmal - ein überaus erfolgreicher Oppositionspolitiker. Seine Erfolgsgarantie: ein engmaschiges Netzwerk und eine phänomenale Präsenz in der Partei. Als er dann Kanzler war, lief die versprochene Reformmaschinerie überhaupt nicht wie geschmiert. Auch die Zeichen der herannahenden Einheit wurden im Bonner Kanzleramt erst spät erkannt. Aber als sie erkannt wurden, gab es für Helmut Kohl kein Halten mehr: So gesehen ist die Einheit denn doch zu einem guten Teil sein Werk.

Ein Kanzler zwischen sehr langfristigen Wertorientierungen und einem sehr taktischen Verhältnis zur Macht. Die strategische Ebene dazwischen war sein Ding nicht. Europäer aus Überzeugung, Mann des Euro auch das, dazwischen aber unglaublich viel tagespolitisches Klein-Klein. Wie auch in der Innenpolitik. Man kann das Aussitzen nennen, aber dann haben alle Kanzler dieser Republik ausgesessen.

Das Einzigartige dieses Kanzlers gipfelte positiv in der Einheit, negativ in der Tragödie der Spendenaffären und seines Privatlebens. Das aber heißt: Diesem nicht nur von seiner Körperlichkeit her einst gigantischen Kanzler wird man nur gerecht, wenn man den ganzen Kohl sieht. Die Union ist auf dem Weg dahin. Und das war überfällig.

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