Kommentar Die USA nach dem Anschlag von Boston - Unwillkommene Zäsur

Seit 1897 kommen die Menschen zu Hunderttausenden in Boston zusammen, um in Volksfest-Atmosphäre andere dabei zu bewundern, wie sie, oft mit letzter Willenskraft, ihren inneren Schweinehund niederringen.

Einen Terroranschlag hatte offenbar niemand auf der Rechnung. Was die ewige Frage aufbringt, ob man sich gegen derlei Wahnsinn nicht besser wappnen kann. Die Antwort ist unbefriedigend: ja. Nur leider nie hundertprozentig.

Mögen die Hintergründe des schlimmsten Anschlags auf amerikanischem Boden seit über zehn Jahren auch weiter im Dunkeln liegen - die erneute Verwundung der kollektiven Psyche des seit 11. September 2001 traumatisierten Landes wird gravierende Folgen haben. Blutverschmierte Kindergesichter und zu Krüppeln gebombte Schaulustige vergisst das nationale Gedächtnis nicht.

Amerika hat nach den von Osama bin Laden inspirierten Attentaten islamistischer Fanatiker in New York und Washington zivilgesellschaftlich einen hohen Preis gezahlt. Zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, zur Beruhigung der Volksseele wurde in einem bis dahin nicht gekannten Maße individuelle Freiheit geopfert. Das "Land der Freien und Mutigen" wurde zur Festung. Vor und hinter den Mauern regieren bis heute Misstrauen und bisweilen sogar Paranonia. Auch gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen. Der Überwachungsstaat expandiert.

Fast zwölf Jahre nach "9/11" erhält das Ressentiment neue Nahrung. Die Idee, sich uneingeschränkt sicher zu fühlen, die Überzeugung, dass nicht jede auf den ersten Blick irritierende Situation Unheil versprechen muss - beides könnte auf Jahre ausgedient haben. Gesetze zu lockern, die einen permanenten Verdacht unterstellen, den gewaltigen Sicherheitsapparat mit Augenmaß abzuschmelzen und in der Verfassung verankerte Bürgerrechte neu zu gewichten - kaum einem Politiker wird das jetzt noch einfallen. Die Retourkutsche der verunsicherten Wählerschaft könnte fatal sein.

Ob die Kollateralschäden des Anschlags auf das denkbar weichste Ziel - eine nicht einzäunbare sportliche Massenveranstaltung unter freiem Himmel - bis in die Tagespolitik reichen werden, ist noch nicht ausgemacht. Auszuschließen ist aber nicht, dass die überfällige Reform des Einwanderungsrechts wie auch moderate Verschärfungen des Waffenrechts im Lichte der jüngsten Massaker auf der Tagesordnung weit nach hinten geschoben werden.

Für die gerade erst gestartete zweite Amtszeit Obamas bedeutet Boston eine unwillkommene Zäsur. Demokraten und Republikaner, einander lange in feindseliger Abneigung verbunden, machten zuletzt Anstalten, den Stillstand der vergangenen vier Jahren zu beenden. Durch Kompromisse. Boston könnte den Rückfall in die alte Wagenburgzeit bedeuten.

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