Kommentar Die Lage in Syrien - Trübe Aussichten

Eine Woche Weltpolitik auf der Achterbahn ist vorüber. Und man reibt sich erstaunt die Augen. Schien es gerade noch so, als stünde in einer extrem leicht entflammbaren Region ein amerikanischer Militärschlag mit ungewissen Konsequenzen kurz bevor, so hat jetzt zumindest für viele Wochen wenn nicht Monate in Syrien die Diplomatie das Sagen.

Jedenfalls, was die Chemiewaffen anbelangt. Der entlang religiöser Demarkationslinien verlaufende grausam geführte Bürgerkrieg, der bereits über 100.000 Tote gefordert hat, bleibt von der russisch-amerikanischen Krisen-Entschärfung seltsam unberührt. Diese Tatsache macht es so schwer, das Ergebnis von Genf als Sieg der Vernunft zu werten.

Was da in der Schweiz von den Supermächten USA und Russland ausgetüftelt wurde, sieht auf Papier - gemessen an der verfahrenen Situation noch vor 14 Tagen - imposant aus. Klare Fristen, kategorisches Verlangen nach Transparenz und viel Zeitdruck können jedoch nicht über die zentrale Schwachstelle hinwegtäuschen: es gibt keine im Konsens festgelegten Sanktionen, die greifen, wenn der syrische Diktator Assad den ihm vorgezeichneten Pfad verlässt. Dass er ihn verlassen wird, dass er lügen, betrügen, verschleiern und behindern wird, ist für westliche Experten bereits heute eingepreist.

Der vorläufig geltende "Nichtangriffspakt", den Russlands Präsident Putin seinem Gegenüber Obama beim politischen Armdrücken abgetrotzt hat, kann eine unheilvolle Dynamik entfalten. Mit jeder Woche, die nun ins Land geht und von dem öffentlich ausgetragenen Ringen um die Chemiewaffen geprägt sein wird, kann sich Assads bröckelnde Macht stabilisieren. Er ist als Präsident in der Pflicht und auf Augenhöhe mit Regierungen weltweit.

[kein Linktext vorhanden]Genau das, was Obama verhindern wollte. Sein Ziel, den Despoten mit einem Militärschlag einzuschüchtern, zu schwächen und bei weiterer Unterstützung des verlässlichen Teils der Rebellen den Boden für einen politischen Wechsel zu bereiten, ist in weite Ferne gerückt. Putins zynischer Plan, seinem Verbündeten, dem Menschenschlächter Assad, wertvolle Zeit zu kaufen und an der Macht zu halten, ist voll aufgegangen.

Der jetzt vorgezeichnete Weg in Richtung eines chemiewaffenfreien Syriens ist voller Stolpersteine. Wer will auf die Schnelle vollständig überprüfen, ob die Liste der Nervengas-Depots vollständig ist, die Assad schon Ende dieser Woche präsentieren muss? Die Annahme, dass die Regierung in Damaskus genügend Material rechtzeitig an die Seite bringen wird, ist nur berechtigt. Was ist, wenn die UN-Inspekteure, die ab November in den syrischen Giftgas-Lagern "Inventur" machen sollen, zwischen die Fronten geraten und beschossen werden?

Am Ende des Tages könnte der Bürgerkrieg in Syrien in sein drittes Jahr gehen und Obama säße abermals in der Falle, die er sich selbst so fahrlässig eingebrockt hat: Amerikas Präsident müsste erneut über das Für und Wider eines militärischen Eingriffs entscheiden. Dann aber aller Voraussicht nach mit noch weniger Unterstützung durch das Parlament in Washington, die amerikanische Bevölkerung und die UN. Trübe Aussichten.

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