Kommentar Der Wahlsonntag - Fliehkräfte

Die Deutschen sind es gewohnt, auch europäische Wahlergebnisse durch die deutsche Brille zu betrachten. Das wäre im Fall des Wahlsonntags ein schwerer Fehler.

Denn ginge es nach den Resultaten in der Bundesrepublik, könnte man fast zur Tagesordnung übergehen - trotz des Erfolges der Alternative für Deutschland. Doch es geht nicht nach den Voten der Deutschen. Der europäische Wahltag ist geprägt durch mindestens zwei nationale Katastrophen: durch den riesigen Wahlerfolg der Radikallinken in Griechenland und durch den Aufmarsch der Rechtsextremisten in Frankreich.

Im Fall des Sorgenkindes Griechenland heißt das: Der Konsolidierungskurs ist akut gefährdet, weil die EU den Griechen in ihren Augen zu viel aufgebürdet hat. Im Fall des Nachbarn Frankreich bedeutet es Jahre der Ungewissheit über seinen Kurs. Es ist nicht ersichtlich, wie sich ein sozialistischer Präsident lange im Amt halten soll, dessen Partei seine Landsleute gerade noch ein knapp zweistelliges Ergebnis zubilligen.

Die Zeichen stehen auf Sturm - in Athen wie in Paris. Und in manch anderem Land auch, wenn auch nicht so schwer. Zu früh gefreut, wer gedacht hatte, mit der Wahlschlappe der Rechtspopulisten in den Niederlanden sei die Gefahr schon gebannt. Der Erfolg der AfD in Deutschland darf mit dem der Rechtsextremisten in Frankreich nicht in einen Topf geworfen werden.

Er ist für sich genommen auch nicht bedrohlich, da der Wähler schon immer dazu neigte, bei Europawahlen Denkzettel zu verteilen. Doch die Kritik der AfD und der Anhänger le Pens in Frankreich geht in die gleiche Richtung: Sie ist europakritisch bis -ablehnend. Diesen Denkzettel können die etablierten Parteien nicht so schnell abtun. Wenn man sieht, dass fast jeder zweite AfD-Wähler die EU-Mitgliedschaft Deutschlands negativ bewertet und mehr als die Hälfte im Euro überwiegend Nachteile sehen, dann weiß man, wohin diese Politik Deutschland führen würde: in die Sackgasse.

Die Leidtragenden des AfD-Protesterfolges sind die FDP und die CSU. Die "Bayernpartei" verlor mit ihrem europakritischen Kurs weit mehr als zehn Prozentpunkte (im Vergleich zu den Wahlen im Herbst) nach dem Motto: Dann wähl ich doch gleich das Original. Und die FDP kann sich bei der AfD dafür bedanken, dass sie jetzt genauso schlecht dasteht wie bei der Bundestagswahl. Nach dem Motto: Auf sie kommt es in Europa erst recht nicht an.

Das aber ist ein möglicherweise folgenschwerer Irrtum: Denn nach den bisher vorliegenden Ergebnissen sind die Liberalen europaweit drittstärkste Kraft (in den Niederlanden sogar die stärkste) und damit mitentscheidend für die Mehrheitsbildung im Parlament. Das soll ja das Neue dieser Wahl sein: Wer die Mehrheit hinter sich bringt, wird neuer EU-Kommissionspräsident. Die Regierungschefs sind faktisch im Wort, sich daran zu halten. Glaube nur niemand, das sei schon gesetzt. Es wäre nicht der erste Betrug am Wähler, wenn es anders käme.

Europa steht vor einem beinahe kompletten Führungswechsel: EP-Präsident neu, Kommissionspräsident neu, Außenbeauftragte neu und ständiger Ratsvorsitzender auch neu. Nicht zu vergessen der Nachfolger im Amt des Nato-Generalsekretärs. Auf einen Scharfmacher folgt ein kluger Diplomat. Das ist im Angesicht der Ukraine-Krise ein wichtiger Schritt, so wie es die Beinahe-Wahl in dem Krisenland selbst am Sonntag war. Beide Elemente zusammen, Präsidentschaftswahl dort, neuer Generalsekretär der Nato hier, lassen jedenfalls hoffen.

Auch für die Innenansicht der EU kann das gelten. Es muss Schluss sein mit der Devise, auf die entscheidenden Posten Persönlichkeiten zu setzen, die den Regierungschefs nicht gefährlich werden, ihnen nicht Paroli bieten können, erst recht nicht in einem Moment, da EU-Europa erkennbar auseinanderdriftet. Das gilt übrigens auch für die Zusammensetzung der Kommission. Solange jedes Land einen Kandidaten seiner Wahl in dieses entscheidende Gremium schicken darf, ist man von europäischer Gewaltenteilung weit entfernt. Die Wahl eines Kommissionspräsidenten auf der Basis des Wahlergebnisses wäre da zumindest ein erster großer Schritt in diese Richtung.

Es wird also turbulent in Europa. Nur nicht in Deutschland: Die Wahlbeteiligung steigt, nicht wegen der Spitzenkandidaten, sondern wegen der gleichzeitigen Kommunalwahlen. Merkel siegt, die SPD legt auch in vielen Städten kräftig zu, die große Koalition verteilt Wohltaten und wird dafür belohnt. Alles gut, aber nur im Wirtschaftswunderland, nicht drumherum.

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