Kommentar Afghanistan - Am Dauertropf

Nichts sei gut in Afghanistan, pauschalisierte einst eine deutsche Kirchenfrau. Ende 2014 hat die plakative Formel ihre Spannkraft noch immer nicht eingebüßt.

Nachdem der Hemmschuh Hamid Karsai aus dem Kabuler Präsidentenpalast ausziehen muss, weil demokratie-theoretisch übel beleumundete Wahlen eine bestenfalls dubios zu nennende Machtverteilung zwischen den Herren Ghani und Abdullah erzeugt haben, geht das geschundene Land in eine neue Etappe der Ungewissheit. Die Sicherheitspartnerschaft mit Amerika wird verlängert. Der Totalabzug der US-geführten Truppen, auch der Bundeswehr, in drei Monaten ist damit vom Tisch.

Der längste, teuerste und größte Einsatz in der Geschichte der Nato wird nicht deshalb fortgesetzt, weil westliche Hybris noch immer der Annahme wäre, uralte Stammesfehden mit zwangsbeglückender Rhetorik, neu asphaltierten Straßen und tonnenweise Geld in eine Vielvölker-Demokratie überführen zu können.

Was heute regiert, ist die nackte Angst vor einem Rückfall in jene Sorte Bürgerkrieg, die vor dem Einmarsch der Russen oder nach dem 11. September 2001 in Afghanistan herrschte. Allein das Übergreifen auf den missgünstigen Nachbarn Pakistan, unberechenbar, kaputt und zugleich Atommacht, könnte die Welt an den Abgrund bringen.

Verheerende Konsequenzen, wie sie der überhastete Abzug der US-Truppen im Irak zeitigte, der Geburtshelfer für den "Islamischen Staat" war, wird sich Washington nicht ein zweites Mal zumuten wollen.

Bislang galt für Afghanistan die Zielmarke, dass bis Ende 2016 rund 10 000 US-Soldaten auf "stand by" dafür sorgen sollen, dass die Überbleibsel des Terrornetzwerks von Al-Kaida nicht regenerieren und die fragile Sicherheitslage zwischen Kandahar und Masar-I-Scharif beizeiten wieder kollabiert. Danach, so hatte es Präsident Obama verfügt, sollte sich Uncle Sam aus dem längsten seiner verlorenen Kriege komplett zurückziehen.

Nicht nur der sträflich unterschätzte Siegeszug der Radikalislamisten zwischen Syrien und Irak lässt diese Fristsetzung als töricht erscheinen. Quantitativ haben afghanische Armee und Polizei ihr Soll mit rund 350 000 Einsatzkräften zwar nahezu erreicht.

Dass aber der zu 90 Prozent durch Washington finanzierte Sicherheitsapparat die Qualität, Loyalität und Ausdauer an den Tag legen wird, um Feinden von innen und außen Paroli zu bieten, glaubt niemand. Regional sind die Taliban wieder erstarkt (oder waren nie wirklich schwach). Zudem rühren sich alte Warlords und Drogenbarone.

In dieser Gemengelage kann sich Amerika nicht leisten, weiter Gesundbeterei zu betreiben. Der militärische Schutzschirm, diese Einsicht setzt sich in Washington allmählich fest, muss bleiben. Der chronische Patient Afghanistan wird auf Dauer am amerikanischen Tropf hängen.

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