Kommentar Die Spionageaffäre - 360 Grad

Das Nachdenken hat gedauert. Aber jetzt ist die Bundesregierung endlich bereit, ihre transatlantische Zurückhaltung gegenüber dem ungenierten Treiben von US-Geheimdiensten in Deutschland aufzugeben. Der Schritt ist überfällig.

Mit diplomatischer Demutshaltung hätten sich Vertreter der Bundesregierung ohnehin keinen Respekt bei ihren amerikanischen Gesprächspartnern verdient. Deutschland versucht also eine erste und ebenso ungewohnte Offensive, US-Agenten wie auch Spähern anderer befreundeter Staaten in Berlin die gefühlte "Carte blanche", den Freifahrtschein, zu nehmen.

Die deutsche Spionageabwehr bekommt damit ein größeres Aufgabenspektrum. Ihr Aufklärungsradar soll künftig mit 360 Grad-Rundumblick über mögliche Angriffe auf deutsche Sicherheitsinteressen wachen. Sollten sich verbündete Staaten wie die USA oder Großbritannien tatsächlich darüber wundern, dass neben Russen, Chinesen und Iranern nun auch ihre Geheimdienstler in Deutschland überwacht werden, dann werden sie doch wissen: Sie haben diese Gegenwehr deutscher Geheimdienste durch ihr ignorantes Treiben gegen den Protest des Gastlandes mitprovoziert.

Langsam und spät, bei gleichzeitig erstaunlicher Beratungsresistenz hat die US-Regierung nach deutlich mehr als einem Jahr seit Bekanntwerden der Spähattacken des US-Geheimdienstes "National Security Agency" (NSA) in Deutschland begriffen, dass es den Partnern hierzulande wirklich ernst ist: Die zügellose Spionage von US-Diensten selbst gegen deutsche Regierungseinrichtungen ist ein Vertrauensbruch und muss aufhören!

Solange Amerikaner (und auch Briten) nur ihre Sicht der Dinge wahrnehmen wollen, werden sie die Verärgerung und erst recht den Schaden, den ihre Spionage in Deutschland anrichtet, nicht verstehen. Sehr wohl werden sie aber zur Kenntnis nehmen (und im allerbesten Fall ihre Praxis ändern), wenn Deutschland jetzt zum Gegenangriff übergeht, der eigentlich nur eine Spionageabwehr aus Verzweiflung über zwei besonders enge Verbündete ist. Den Begriff "Freunde" sollte man in diesem Zusammenhang besser streichen: Staaten folgen Interessen. Echte Freunde würden sich nicht gegenseitig ausspionieren.

Sollten die USA tatsächlich bereit sein, das Ausmaß ihrer Spionage in Deutschland einzuschränken, wäre dies viel. Im Gegenzug werden die Amerikaner darauf verweisen, dass ohne Informationen ihrer Dienste Deutschland schon längst Ziel eines Terrorangriffs geworden wäre. Auch das Geheimdienstgeschäft lebt vom Geben und Nehmen. Die Bundesregierung wird dies mit im Kalkül haben, wenn sie jetzt US-Agenten in Deutschland überwachen lassen will.

Nach der von Berlin geforderten und erfolgten Ausreise des obersten Geheimdienstlers an der US-Botschaft setzt Berlin mit der Ankündigung der Abwehrspionage gegen die USA und Großbritannien ein weiteres Ausrufezeichen. Für die neuen Maßnahmen brauchen die Dienste auch mehr Geld und Mittel. Deutschland rüstet im eigenen Land nachrichtendienstlich auf, damit verbündete Staaten ihre Spionage hierzulande abrüsten. Die Amerikaner hätten es einfacher haben können. Aber ihre Welt- und Großmacht-Chuzpe hat dies nicht zugelassen.

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