Thomas Krüger spricht über "Mein Kampf" "Man tut gut daran, den Mythos auszuhebeln"

Soll und darf Adolf Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf" in Deutschland als Nachdruck erscheinen, wenn am 1. Januar 2016 das Urheberrecht an dem Buch erlischt? Soll und kann es verboten werden? Wie steht es um die historisch-kritische Ausgabe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte? Thomas Krüger, Präsident der in Bonn residierenden Bundeszentrale für politische Bildung, hat "Mein Kampf" gelesen, fand es "gruselig" und hat ein eigenes Konzept für den Umgang mit Hitlers Buch entwickelt.

Die WDR-Dokumentation "Countdown zu einem Tabubruch" vom Juni 2015 zeigt in ihrer fiktiven Anfangssequenz eine große Buchhandlung, in der wie Bestseller stapelweise frisch gedruckte Exemplare von "Mein Kampf" liegen, mit Hitler-Konterfei auf dem Cover. Wird es so kommen?
Thomas Krüger: Ich habe da meine Zweifel. Das Buch war zu seiner Zeit ein Bestseller, ein hochsubventionierter Bestseller. Heute wird dieses Buch nicht mehr diese Resonanz haben, weil es doch einen sehr starken zeitgeschichtlichen Kontext hat. Die Lesbarkeit dieses Buches hängt mit zeitgeschichtlichen Faktoren zusammen.

Können Sie sich einen deutschen Verlag vorstellen, der mit Hitlers Hetzschrift Kasse machen wollte?
Krüger: Es hat sich noch keiner gefunden.

Ist das nicht eine Frage der Zeit? Eine Bertelsmann-Tochter vertreibt eine Übersetzung von "Mein Kampf" in England.
Krüger: Die Verlage, die in Deutschland im Sachbuchverlag und im Bereich Geschichtswissenschaften tätig sind, haben eine hohe Sensibilität. Es geht um eine kritische Reflexion jener Zeit. Eine unkommentierte Primärquelle wie "Mein Kampf" würde gar nicht in die Programme der allermeisten Verlage hineinpassen. Die Leute, die "Mein Kampf" lesen wollen, kriegen das Buch ohnehin, antiquarisch oder mit wenigen Klicks aus dem Internet.

Ist es nicht so, dass wenn man ein Buch offiziell unter dem Deckel hält, eine unverhältnismäßige Mystifizierung eintritt, man regelrecht scharf darauf wird? Der Faktor Sensation könnte dazu führen, dass "Mein Kampf" wieder zum Bestseller wird.
Krüger: Hier geht es um die Frage des Tabus. Es ist wichtig, diesem Mythos "Mein Kampf" etwas entgegenzusetzen. Deshalb finde ich die historisch-kritische Ausgabe, die das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) erarbeitet, einen guten Weg. Denn potenziell gilt, was Wolf Biermann seinerzeit mit Wolfgang Neuss gesungen hat: "Was verboten ist, das macht uns gerade scharf." Solange das Tabu gilt, gibt es eine Sehnsucht, das vermeintlich Verbotene zu besitzen. Man tut gut daran, diesen Mythos auszuhebeln.

Der bayerische Finanzminister Markus Söder ist bis 31.12.2015 qua Amt Rechteinhaber an "Mein Kampf". Es gibt zwar einen einstimmigen Landtagsbeschluss für eine historisch-kritische Ausgabe des Buches. Aber die bayerische Staatsregierung hat auch Versuche unternommen, diese zu verhindern.
Krüger: Die Bayern befinden sich in einer schwierigen Situation, die sich so darstellt: Wenn wir einen NPD-Verbotsantrag stellen, dann passt es schlecht dazu, wenn wir nach dem Auslaufen der Urheberrechte, die Verbreitung von 'Mein Kampf' ermöglichen. Nach dem 1. Januar will die Staatsregierung Strafanzeige gegen jeden stellen, der "Mein Kampf" unkommentiert veröffentlicht.

Wird sie damit durchkommen?
Krüger: Ich glaube, dass das Urheberschutzgesetz schlecht auszuhebeln ist. 70 Jahre nach dem Tod des Autors ist der Text gemeinfrei. Ob er unter den Tatbestand der Volksverhetzung fällt, ist eine ganz andere Frage. Wenn Sie mich allerdings fragen, dann glaube ich, dass es nicht die Zeit für Tabus ist, sondern für eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Buch und seiner Wirkungsgeschichte in seiner Zeit.

Das Negativ-Szenario sieht so aus, dass Deutschland nach dem 1. Januar von unkommentierten Versionen von "Mein Kampf" überschwemmt wird. Ist das realistisch? Muss das eine Demokratie, in der die freie Meinungsäußerung ein hohes Gut ist, nicht aushalten?
Krüger: Meine persönliche Meinung: Unsere Gesellschaft hält das aus. Sie hat das Rüstzeug dazu, verantwortungsvoll mit dem Stoff umzugehen, ihn zu kontextualisieren. Aber ich bin nicht naiv: Würde man diesen Text verfügbar machen, bewegte man sich nicht auf unschuldigem Terrain. Wir haben gerade eine kritische gesellschaftliche Situation, die durch Gruppierungen wie Pegida aufgeladen ist. Es gibt neue Stimmen, die im rechtspopulistischen Kontext angesiedelt sind und bis hin zu nationalistischer Diktion argumentieren, und es gibt fremdenfeindliche Stimmen in der Flüchtlingsdebatte. Da darf man sich nicht blauäugig mit diesem Thema in die Öffentlichkeit begeben. Wer über Geschichte nachdenkt, redet immer über die Gegenwart. Es ist hohe Sensibilität geboten, die Begleitung der Diskussion, aber auch das Zutrauen in das eigene kritische historische Bewusstsein, das in diesem Land gewachsen ist. "Wir schaffen das!" Um mit der Kanzlerin zu sprechen.

Geht von dem Buch überhaupt noch Gefahr aus, wie schätzen Sie das propagandistische Potenzial ein?
Krüger: Ich halte die Gefahr für überschaubar. Aber: Keine Geschichte ist zu Ende geschrieben.

Jüdische Opferverbände machen Front gegen die Publikation von "Mein Kampf", sie sind sogar gegen eine historisch kommentierte Fassung. Die israelische Justizministerin Tzipi Livni hat offenbar versucht, bei ihrem deutschen Kollegen Heiko Maas die Publikation zu verhindern.
Krüger: Hier zitiere ich einmal den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte(IfZ) Andreas Wirsching in einer aktuellen Ausgabe der "Aus Politik und Zeitgeschichte": "Eine möglicherweise unüberwindbare Empörung über Pläne, 'Mein Kampf' in einer wie auch immer gearteten Form neu zu bearbeiten, ist nachvollziehbar und zu respektieren. Gleichwohl gilt es angesichts der rechtlichen Lage, die allein auf dem auslaufenden Urheberrecht beruht, die Umstände zu erläutern und am Ende noch einmal die Gründe darzulegen, die für Transparenz und Offenheit sprechen."

Was halten Sie von der historisch-kritischen Ausgabe, die das Münchner Institut für Zeitgeschichte erarbeitet.
Krüger: Wie gesagt, eine historisch-kritische Ausgabe ist die sachgerechte Weise, mit diesem Buch umzugehen. Es gibt ein breites Netz von Gedenkstätten, Trägern der politischen Bildung und wissenschaftlichen Institutionen, die diese Zeit reflektieren. In die Landschaft des historisch-politischen Lernens passt eine solche Ausgabe.

Was plant die Bundeszentrale für politische Bildung?
Krüger: Wir unterstützen das Institut für Zeitgeschichte, indem wir für die Gedenkstätten und erinnerungskulturellen Einrichtungen und Museen mit Mitteln der bpb Exemplare der historisch-kritischen Ausgabe zur Verfügung stellen. Wir berichten - in der schon erwähnten Ausgabe von "Aus Politik und Geschichte" - über Hintergründe, Rezeption und Diskussion und erweitern diese Publikation zu einem Online-Dossier. Und wir bieten didaktisches Material über den Gesamtkomplex Nationalsozialismus und Hitler an. Für weitere Planungen ist es wichtig, die weitere Diskussion abzuwarten, um sinnvolle Bausteine zu entwickeln. Letztlich stellt sich die Frage, wie groß der Erkenntnisgewinn über den Nationalsozialismus durch eine eingehendere Lektüre von "Mein Kampf" im Unterricht überhaupt sein kann.

Der eigentliche Skandal ist doch, dass seit 1945 die Hetzschrift in Deutschland unkommentiert kursiert. Seit Jahrzehnten fordern Historiker eine historisch-kritische Ausgabe. Warum war es so schwierig, diesem Thema zu begegnen?
Krüger: Die furchtbare Geschichte des Zweiten Weltkriegs führte zunächst in eine Tabuisierung. Man misstraute der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft, dass sie von einem auf den anderen Tag resistent gegen dieses Gedankengut werden konnte. Das gilt für die ersten 20 Jahre. Dann manifestierte sich das Tabu. Die Gesellschaft mit allen Interessengruppen hat es damals versäumt, diese Diskussion zu führen.

Haben Sie "Mein Kampf" gelesen?
Krüger: Das was ich gelesen habe, ist gruselig, absurd, verschwörungstheoretisch. Der Text ist auf der anderen Seite aber durchaus auch eine Art "Bildungsroman", man kann viel über die Entwicklung von Hitlers kruder Denkweise lernen. Aber klar ist auch, "Mein Kampf" ist eine wichtige, aber nur eine von vielen Quellen, um die Zeit des Nationalsozialismus zu begreifen. Die Grauen dieser Zeit unter anderem durch die Auseinandersetzung mit historischen Quellen zu vermitteln, um für das Heute zu lernen: Das ist zentrales Anliegen der politischen Bildung in Deutschland.

Zur Person

Thomas Krüger, geboren 1959 in der DDR, absolvierte in den Jahren 1976 bis 1979 eine Ausbildung zum Facharbeiter für Plast- und Elastverarbeitung und nahm dann ein Studium der Theologie auf, anschließend war er Vikar. Seine politische Karriere begann er 1989 als eines der Gründungsmitglieder der Sozialdemokraten in der DDR (SDP) und blieb bis 1990 deren Geschäftsführer in Berlin (Ost) und Mitglied der Volkskammer in der DDR. Als Erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters in Ost-Berlin war er 1990 bis 1991 tätig sowie als Stadtrat für Inneres beim Magistrat Berlin und in der Gemeinsamen Landesregierung. Von 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin. Als Mitglied des Deutschen Bundestages war er in den Jahren 1994 bis 1998 aktiv. Seit Juli 2000 ist er Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort