Interview mit DLV-Präsident "Wir haben ein Team mit Perspektive"

Clemens Prokop ist seit 2001 Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Der 57 Jahre alte Jurist spricht im GA-Interview über das EM-Team 2014, den Ausnahmeathleten Robert Harting - und über das Dilemma im Fall des behinderten Weitspringers Markus Rehm.

 Treffen im Teamhotel: Der DLV-Präsident beantwortet am Rande der EM in Zürich die Fragen von GA-Redakteur Berthold Mertes.

Treffen im Teamhotel: Der DLV-Präsident beantwortet am Rande der EM in Zürich die Fragen von GA-Redakteur Berthold Mertes.

Foto: W. Birkenstock

Herr Prokop, haben Sie Robert Harting geraten, nach seinem EM-Sieg mit dem Trikot zu kuscheln statt es zu zerreißen?Prokop: Es war auf jeden Fall originell, was er gemacht hat - ein ironischer Beitrag zur Diskussion, ob das Zerreißen von Trikots mit staatlichen Symbolen zulässig ist oder nicht.

Also nicht aus Furcht vor juristischen Konsequenzen?
Prokop: Nein. Von der im Grunde lächerlichen Klageandrohung hat sich Robert bestimmt nicht abschrecken lassen.

Harting ist die große Identifikationsfigur, doch das deutsche Leichtathletik-Team ist insgesamt viel erfolgreicher als zwischen 2002 und 2008. Was sind die Gründe?
Prokop: Es gibt einen Mix von Ursachen. Dazu zählt die erfolgreiche Arbeit von Heimtrainern in den Vereinen. Von Verbandsseite arbeiten wir mit zentralen Maßnahmen viel gezielter.

Ein Beispiel?
Prokop: Wir haben mit besonderen Trainingslagern in den USA die Sprintförderung vorangetrieben. Die Ergebnisse lassen sich sehen: Wir haben einen neuen deutschen 100-Meter-Rekord und einen Läufer im EM-Finale. Oder die Mittelstrecke: Die vielen Erfolge bei der Team-EM haben gezeigt, dass auch hier etwas in Bewegung geraten ist. Das ist sehr erfreulich.

Zeitversetzt ist es wie mit dem Sommermärchen 2006 im Fußball. War die WM 2009 in Berlin für die Leichtathletik ein ähnliches Signal?
Prokop: Das ist ein sehr anspruchsvoller Vergleich. Tatsächlich bewegen wir uns seit 2009 kontinuierlich aufwärts mit dem Höhepunkt der Olympischen Spiele 2012. Dort waren wir in puncto Medaillenausbeute so erfolgreich wie 2000, 2004 und 2008 zusammen. Viele, die in Zürich starten, werden ihren Höhepunkt erst in ein paar Jahren erleben. Es ist ein Team mit Perspektive.

Wie sieht die aus?
Prokop: Wir wollen uns dauerhaft unter den besten fünf Nationen der Welt etablieren und unter denen möglichst weit oben. Das ist sehr schwierig, weil es echte Leichtathletik-Großmächte gibt. Zum anderen hängt das immer vom Quäntchen Glück ab. Das sieht man auch in Zürich. Man kann nicht alles planen - manchmal kommt einfach etwas dazwischen wie ein Regenschauer oder eine Windböe. Ich hoffe, die Blessuren unserer Sprintasse verhageln nicht die Staffelchancen.

In London gab es acht olympische Medaillen, wie ist das Potenzial für Rio 2016?
Prokop: Das zu beziffern, provoziert eine hohe Erwartungshaltung. Deshalb machen wir es aus Prinzip nicht. Medaillenprognosen erwecken den Eindruck, als ob sportliche Leistungen alleine den Wert in der Farbe der Medaillen haben. Unser Ziel ist, dass die Athleten ihre Saisonbestleistung bei einer internationalen Meisterschaft bringen. Dann ergeben sich zwangsläufig Platzierungen ganz vorne.

Unabhängig von der Medaillenzahl nach dem Schlusswochenende - welches Bild gibt aus Ihrer Sicht die deutsche EM-Mannschaft ab?
Prokop: Ich glaube, sie präsentiert sich sympathisch, selbstbewusst und leistungsorientiert. Und vor allem als Team. Das ist auch ein Verdienst von Robert Harting. Seinen Einsatz in der Mannschaft kann man nur sehr hoch bewerten. Es ist uns gelungen, in einer Individualsportart ein Team zu formen. Robert Harting hat ein ganz anderes Standing als die meisten anderen, dennoch entstehen keine Hierarchien. Alle stellen sich in den Dienst der Mannschaft. Davon bin ich beeindruckt.

Der behinderte Weitspringer Markus Rehm - obwohl deutscher Meister - ist nicht dabei. Hätte seine Nominierung die Stimmung im Team beeinträchtigt, weil die Ansichten, ob er hierher gehört, polarisieren?
Prokop: Das glaube ich nicht. Er ist ein spannender Mensch und ein herausragender Sportler. Sein Start in Ulm war ein Novum. Er wurde fair und freundschaftlich von den anderen Weitspringern aufgenommen. Ich glaube nicht, dass hier ein Problem entstanden wäre.

Es ist schwierig, sich politisch korrekt zu äußern. Ihre Position, ihn nicht zu nominieren, stieß auch auf Unverständnis. Fühlen Sie sich missverstanden?
Prokop: Persönlich enttäuscht haben mich einige Zuschriften, die uns den Willen zur Inklusion abgesprochen haben. Das weise ich entschieden zurück. Wir sind der einzige Fachverband mit einem Inklusionsbeauftragten im Präsidium. Es gibt keinen anderen Fachverband, in dem sogar gemeinsame Trainingslager üblich sind. Deshalb glaube ich, dass wir uns über das Thema Inklusion nicht belehren lassen müssen.

Bleibt die grundsätzliche Frage: Gehören Behinderte und Nichtbehinderte in gemeinsame Wettkämpfe?
Prokop: Wenn wir zum Ergebnis kommen, die Leistungen sind nicht vergleichbar, stellt sich die Frage: Bedeutet Inklusion, dass trotzdem eine gemeinsame Wertung erfolgen soll? Das ist das Kernproblem. Inklusion findet aus meiner Sicht ihre Grenzen bei den Grundprinzipien des sportlichen Wettkampfes. Und die liegen für mich in der Chancengleichheit.

Was meinen Sie: Wird Rehm künftig bei internationalen Meisterschaften starten dürfen?
Prokop: Dazu müsste ich hellseherische Fähigkeiten haben. Momentan - ohne dem Ergebnis vorzugreifen - bin ich skeptisch, weil die Ergebnisse von Ulm und die Diskussion danach zeigen, dass eine Karbonfeder physikalisch und biomechanisch andere Abläufe ermöglicht als ein Sprunggelenk.

Warum hat der DLV das Problem nicht früher durch ein Gutachten aus der Welt geschafft?
Prokop: Zunächst stellt sich die Frage, wer überhaupt verantwortlich ist. Ist es die Aufgabe des DLV, oder müsste der Behindertensportverband aktiv werden? Wir sind seit 2013 im Gespräch, um einen generelle Lösung zu finden. Die haben wir bisher aber noch nicht gefunden.

Woran liegt das?
Prokop: Daran, dass Behinderungen individuell sehr unterschiedlich sind, wie auch die Hilfsmittel. Deshalb gibt es bisher keine Alternative zu Einzelgutachten.

Also ist keine Lösung der Problematik in Sicht?
Prokop: Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns sportpolitisch die Frage stellen: Wann sind Leistungen in einem gemeinsamen Wettkampf auch vergleichbar? Die gültigen Regeln sind nicht praktikabel: Wie soll das dafür zuständige Kampfgericht vor Ort eine Entscheidung treffen - also Menschen, die in dieser Thematik überhaupt nicht erfahren sind. Wir erleben ja sogar, dass sich die Biomechaniker streiten. Zum Beispiel ob der Vorteil des Behinderten im Absprung durch den Nachteil im Anlauf ausgeglichen wird. Ein weiteres Dilemma: Wir brauchen weltweit einheitliche Regeln.

Die Mühlen der Verbände mahlen langsam. Wann ist eine Klärung überhaupt möglich?
Prokop: Der nächste Kongress des Weltverbandes findet 2015 in Peking statt. Dort muss es eine Klarstellung geben.

Die Diskussion über technisches Doping hat zuletzt das Thema der medizinischen Leistungsmanipulation verdrängt. 2014 gab es keine nennenswerten neuen Dopingfälle. Ist dieses Problem aus der Welt?
Prokop: Das internationale Kontrollnetz weist weiterhin Lücken auf. In einigen Ländern herrscht nach wie vor eine unbefriedigende Situation. Vieles hat sich verbessert, aber ich will die Dunkelziffer nicht kleinreden.

Machen Sie den Fortschritt auch an der Physiognomie der Sportler fest? Im Sprint beispielsweise sind wieder mehr normal gebaute Athleten am Start.
Prokop: Auf den ersten Blick könnte man so etwas sagen. Aber ich bin vorsichtig, von Äußerlichkeiten auf Doping zu schließen.

Und Ihr Bauchgefühl?
Prokop: Wenn ich Leistungsentwicklungen anschaue: Es gibt kaum noch Sprünge nach oben. Im Gegenteil: In einigen Disziplinen gibt es Rückentwicklungen. Das sehen Sie, wenn Sie Weltrekorde mit aktuellen Leistungen vergleichen. Nehmen Sie Marita Kochs Weltrekord von 47,60 Sekunden über 400 Meter aus dem Jahr 1985. Selbst ein Robert Harting als Ausnahmeerscheinung im Diskus wirft weit am Weltrekord vorbei. Auch David Storl als Jahrhunderttalent im Kugelstoß ist nicht in Gefahr, Rekorde zu brechen. Das ist ein positives Zeichen, dass sich etwas verändert hat.

Die Zuschauerresonanz im Leichtathletik-Mekka Zürich war an den ersten EM-Tagen enttäuschend. Wurde der "Mythos Letzigrund" überbewertet?
Prokop: Der Mythos gründet auf einem Ein-Tages-Meeting mit unglaublichen sportlichen Inhalten, einer Auslese von Olympiasiegern und Weltmeistern sowie auf der Stimmung. Mehrtägige Meisterschaften sind etwas ganz anderes.

Die Eintrittspreise für eine Tageskarte betragen umgerechnet zwischen 80 und 200 Euro - wer soll das bezahlen?
Prokop: Sie sind auf dem hohen Level der Schweiz festgelegt worden. Einige meiner Bekannten sind angesichts der Preise zu Hause geblieben.

Was lernt Berlin als Ausrichter der EM 2018 daraus?
Prokop: Wir werden deutlich niedrigere Preise ansetzen. Ziel ist, dass sich auch Familien mehrtägige EM-Besuche leisten können.

Die EM 2018 - Fingerzeig für eine Olympiabewerbung?
Prokop: Sportliche Großereignisse sind immer ein wichtiger Schritt für eine Olympiabewerbung. Wir hatten in Berlin 2006 Spiele der Fußball-WM und 2009 die Leichtathletik-WM. Aktuell laufen die Schwimm-Europameisterschaften und in vier Jahren die Leichtathletik-EM. Diese Ereignisse prädestinieren uns, auch den letzten Schritt zu gehen.

Für wann ist das realistisch?
Prokop: Ich würde eine Bewerbung für 2024 ins Auge fassen. Wenn eine Bewerbung so gut ist, wie ich sie mir vorstelle, dann wird Deutschland nie chancenlos ins Rennen gehen.

Zur Person

Clemens Prokop, geboren am 26. März 1957 in Regensburg, ist ein führender deutscher Sportfunktionär. 1975 war er deutscher Jugendmeister im Weitsprung. 2001 wurde der Jurist an die Spitze des Deutschen Leichtathletik-Verbandes gewählt. Promoviert hat er über "Die Grenzen des Dopingverbots". Seit 2011 ist Prokop Direktor des Amtsgerichts Regensburg. 2015 kandidiert er für das IAAF-Council, Führungsgremium des Leichtathletik-Weltverbandes.

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