Interview mit Timo Boll Tischtennis: Bei uns fehlt eine Fankultur

FRANKFURT · Timo Boll wirkt ganz entspannt. Nach einer dreiwöchigen Wettkampfpause wegen Schmerzen am rechten Hüftbeuger hat sich der 33-jährige Tischtennis-Star vor einer Woche beim Bundesliga-Rekordspiel seines Vereins Borussia Düsseldorf gegen Fulda mit zwei Siegen eindrucksvoll zurückgemeldet.

Vier Tage lang trainierte der Rekord-Europameister danach mit der Nationalmannschaft in Frankfurt, bevor er an diesem Wochenende bei den deutschen Meisterschaften in Chemnitz aufschlägt. Dort möchte er am Sonntag, seinem 34. Geburtstag, seinen zehnten Titel gewinnen – das wäre ein weiterer Rekord. "Wir haben auch Kraft- und Leistungstests gemacht, da sah es jetzt gar nicht so schlecht aus", sagt er zufrieden.

Daniela Greulich sprach mit Boll während einer Lehrgangs-Pause in Frankfurt über die Zukunftsperspektiven des Tischtennis, China und seine weitere Karriereplanung.

Herr Boll, 5492 Fans wollten das Tischtennis-Bundesliga-Spiel in der Hamburger O2-World sehen. Das war auch für Sie eine ungewohnte Kulisse, oder?
Timo Boll: Es ist schön, dass so viele Menschen gekommen sind, 5500 Zuschauer hatten wir in der Bundesliga noch nie. Das ist wieder ein kleiner Erfolg für den Tischtennissport. Natürlich wollen wir die Halle irgendwann einmal ganz voll bekommen, aber es ist ein langer Kampf für die so genannten Randsportarten. Nur mit solchen Veranstaltungen bekommen wir die Medien in die Halle. Das Ganze wirkt professionell, man riecht sozusagen nicht mehr den Turnhallenmief. Wir müssen es schaffen, dass jeder Verein professionelle Strukturen aufbaut mit einem großen Team dahinter.

Bei Borussia Düsseldorf, dem "Bayern München des Tischtennis", ist das schon lange der Fall. Trotzdem kommen auch da im Schnitt nur 1000 Besucher.
Boll: Den Aufwand wie jetzt in Hamburg kann man auch nur bei den Topspielen betreiben oder beim Playoff-Finale. In Ulm haben wir auch einmal vor 3500 Zuschauern gegen Ochsenhausen gespielt. Aber momentan hängt vieles an Düsseldorf. Wir wollen, dass die Popularität des Tischtennis in Deutschland nicht nur an mir oder an Düsseldorf festgemacht wird. Es soll sich auch mal jemand mit einem anderen Verein identifizieren, mit deren Spielern. Bei uns fehlt eine Fankultur, wie es sie zum Beispiel beim Handball gibt.

Nachdem der heutige Bundestrainer Jörg Roßkopf gemeinsam mit Steffen Fetzner 1989 in Dortmund im Doppel sensationell WM–Gold gewonnen hatte, gab es schon mal einen kleinen Boom, aber der ist wieder abgeebbt. Regeländerungen wie größere Bälle und kürzere Sätze haben auch nichts gebracht. Was könnte ein neuer Impuls sein?
Boll:
Es gibt kein Allgemeinrezept. Es hängt viel an den Medien, die müssen wir irgendwie ins Boot holen, vor allem das Fernsehen. Da liegt immer der Schlüssel, wie populär eine Sportart ist. Wir haben Fernsehverträge mit den Öffentlich-Rechtlichen, aber wenn sie uns dann selbst bei Großveranstaltungen relativ selten zeigen, ist das für uns enttäuschend. Man muss den Sport für die Medien attraktiver machen, sie ein bisschen mehr hofieren.

Aber auch die Zuschauer kommen ja nicht, obwohl der deutsche Tischtennis-Bund mit knapp 600 000 Mitgliedern bundesweit der zwölftgrößte Verband ist und fast jeder schon Mal an der Platte gestanden hat.
Boll:
Das liegt sicher nicht an der Attraktivität des Tischtennis, in China ist es ja auch eine Mediensportart. Wir müssen uns nicht vor anderen Sportarten verstecken: Es passiert immer etwas, es gibt oft knappe Spielstände, es geht um Technik und Taktik. Selbst ein Fußballspiel ist oft ziemlich langweilig und es passiert nicht viel. Aber die Partie wird übertragen, der Moderator erzählt unglaublich viel über die Spieler und kennt sehr viele Details und Statistiken.

Und beim Tischtennis...
Boll: ...da kennt man in Deutschland vielleicht mich, die Älteren außerdem Jörg Roßkopf, und die Sportbegeisterten noch Dimitrij Ovtcharov. Danach hört es schon auf. Es gibt wenig Hintergrundberichte. In Deutschland hat kaum einer das Bild, dass man mit Tischtennis sein Geld verdienen oder sogar ganz gut davon leben kann.

Im Internet hat vergangenes Jahr ein Youtube-Video für Furore gesorgt, in dem Sie gegen einen Roboter antreten. Das haben mehr als sechs Millionen Menschen angeklickt. Man kann also Aufmerksamkeit für den Sport bekommen.
Boll: Dieser Clip meines Sponsors KUKA ging richtig ab und hat alle möglichen Online-Marketing-Preise gewonnen. Auch in den Technik-Blogs wurde darüber gesprochen. Ich bin ein Technikfreak und dort viel unterwegs. So habe ich mich unglaublich gefreut, als da mein Name gefallen ist. Die ganze Geschichte hat mir sehr viel Spaß gemacht. Der Dreh in Sofia war sehr spannend und ich war auch schauspielerisch gefordert, denn Roboter können natürlich noch kein Tischtennis spielen. Ich musste die Bälle imaginär zurückgeben, damit es vom Rhythmus her passt und vom Schlag.

Das klingt nach einer guten Werbung für den Tischtennis-Sport und nicht nur für den Roboter.
Boll: Ja, aber der Clip kostet ein paar hunderttausend Euro, so etwas kann man nicht jede Woche machen. Es war auf jeden Fall eine Mordsdemonstration und einfach ein cooler Look vom TischtennisSport. Am 11. März kommt übrigens das neue Roboter-Video mit mir. Das geht in eine ganz andere Richtung, ist aber auch ziemlich lustig. Den ersten Trailer gibt es schon auf Youtube.

Können Sie etwas mehr verraten?
Boll: Ich bin davon ausgegangen, dass es eine Revanche gibt, denn ich hatte den Roboter 11:9 geschlagen. Es gibt eine Revanche – aber nicht im Tischtennis, sondern in einem Bereich, in dem der Roboter Vorteile hat.

Sie haben in den nächsten Wochen ein straffes Programm mit deutschen Meisterschaften, German Open und WM, hinzu kommen noch Champions League und Bundesliga mit dem Verein. Wo legen Sie den Schwerpunkt?
Boll: Ich gebe immer Vollgas, wenn ich an die Platte gehe. Die WM ist sicher mein Hauptziel in diesem Jahr, aber ich muss auch in der Champions League und in der Bundesliga meine Leistung bringen. Ich muss also den Spagat zwischen harter Trainingsarbeit und Frische für die Wettbewerbe hinbekommen, das ist für mich selbst nach vielen Jahren Leistungssport noch schwer.

Wie schätzen Sie denn Ihre Chancen bei der Individual-WM im chinesischen Suzhou vom 26. April bis 3. Mai ein?
Boll: Mein Programm mit Einzel und Doppel ist hart, und ich habe in beiden Wettbewerben Ambitionen. Ich hoffe, dass ich bis zur WM fit bleibe und dann traue ich mir schon ein bisschen was zu. Im Einzel liegt das Leistungsniveau sehr nah beieinander. Um eine Medaille zu gewinnen, werde ich den einen oder anderen Chinesen aus der Weltspitze schlagen müssen.

Das ist Ihnen in der Vergangenheit ja schon oft gelungen...
Boll: ...ja, , ich habe auch bei meiner bislang letzten World-Cup-Teilnahme im Oktober sehr gut gespielt und nur knapp gegen Olympiasieger und Weltmeister Zhang Jike verloren. Das gibt mir Selbstvertrauen.

Und WM-Gold fehlt noch in Ihrer großen Medaillensammlung.
Boll: Das wäre natürlich schön. Im Doppel mit dem chinesischen Weltranglistenersten Ma Long ist die Chance vielleicht noch größer als im Einzel. Ma Long ist einfach eine Granate, für mich der Beste überhaupt.

Weltverbands-Präsident Thomas Weikert hat es als sportpolitische Sensation bezeichnet, dass die Tischtennis-Großmacht China einen ihrer drei Startplätze im Doppel an Ihre deutsch-chinesische Kombination vergeben hat. Wie ist es dazu gekommen?
Boll: Die Chinesen haben das 2013 schon einmal bei einem World-Tour-Turnier probiert. Aus ihrer Sicht ging es darum, den Wettbewerb durch die neue Konstellation für die Medien und die Zuschauer interessanter zu machen. Natürlich ist für China auch die Geste, sich in ihrer Kernsportart der Welt zu öffnen, von Bedeutung. Das ist schon ein kleines politisches Zeichen.

Wie kamen Sie ins Spiel?
Boll: Ich war ein bisschen der Initiator. Die Chinesen hatten den Antrag gestellt, dass es bei der WM gestattet sein soll, auch mit anderen Nationen Doppel oder Mix zu spielen. Das ist genehmigt worden. Also habe ich mal nachgefragt, ob die Chinesen die Doppel für die WM öffnen, denn ich hätte Interesse, mit Ma Long zu spielen. Dann habe ich lange nichts gehört, bis Mitte Februar die Nachricht kam, sie würden uns gerne spielen lassen, wenn das für den deutschen Verband auch okay wäre.

Da mussten Sie ja nicht lange überlegen, oder?
Boll: Bundestrainer Jörg Roßkopf hätte im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2016 lieber zwei deutsche Doppel ins Rennen geschickt, um Erfahrungen zu sammeln. Aber ich bin keiner, der beim Deutschen Tischtennis-Bund dauernd etwas fordert. Also haben sie mir diesen einmaligen Wunsch erfüllt. Ob's wirklich funktioniert, werden wir sehen, aber es ist auf jeden Fall eine sehr gute Möglichkeit, Weltmeister zu werden.

Haben Sie mit Ma Long seitdem schon einmal gesprochen?
Boll: Noch nicht, aber wir sehen uns Ende März bei den German Open in Bremen. Da werde ich ihm danken, obwohl er bei der Entscheidung wahrscheinlich wenig zu melden hatte. Er ist aber ein Typ, der das vollkommen akzeptiert und titelhungrig ist. In den vergangenen Jahren wurde er von vielen als bester Spieler gesehen, aber er hat nicht die großen Titel gewonnen. Deshalb wäre es für ihn bestimmt schön, im Einzel und im Doppel Weltmeister zu werden, um es allen zu zeigen.

Sie haben schon einmal mit Ma Long gespielt. Was sehen Sie als Erfolgsrezept?
Boll:
Die Kombination von Linkshänder und Rechtshänder passt gut, weil es die Laufwege erleichtert. Außerdem harmoniert unser Spielsystem. Wir sind beide im Aufschlag-Rückschlag-Spiel gut. Ich arbeite mehr mit Rotation, er hat auch diese brachialen Schläge und ist mit der dynamischste Spieler.

Passt es auch menschlich?
Boll: Ich habe bei den Chinesen schon oft gesehen, dass der bessere Spieler den etwas schwächeren ganz schön zurechtstutzt. Bei Ma Long habe ich nicht das Gefühl, dass er die Augen verdreht, wenn ich jetzt mal einen Fehler mache und umgekehrt ist das auch nicht so. Das ist auch wichtig im Doppel, dass man ein gutes Gefühl hat.

Seit einigen Jahren treten Sie im Sommer immer wieder in der chinesischen Super League an. Was ist dort anders als etwa in der Bundesliga?
Boll: Das ist eine andere Welt. Die Liga mit zehn Vereinen läuft auch erst seit etwa zehn Jahren richtig professionell. Deshalb gibt es noch viele Baustellen. Aber die Energie ist anders und es wird viel mehr Geld investiert. Bei jedem Spiel wird ein Programm geboten, das ist ein bisschen wie in der nordamerikanischen Basketball-Profiliga NBA. Schon in den Verhandlungen kümmern sich die Vereine außerdem ganz anders um die Spieler als in Deutschland.

Inwiefern?
Boll: Wenn ein Chinese in Deutschland in einem Verein spielt, bekommt er vielleicht den Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt und gezeigt, wo der nächste Supermarkt und die Trainingshalle sind. In China habe ich einen Fahrer, und wenn ich meine Frau und mein Kind mitbringe noch eine deutschsprachige Nanny. Es gibt immer einen Dolmetscher. Die Vereine kümmern sich also extrem gut um die Spieler.

[kein Linktext vorhanden]Wie ist die Atmosphäre bei den Spielen?
Boll: Das ist ganz unterschiedlich, je nachdem, wie der Verein strukturiert ist und in welcher Stadt er liegt. Wir spielen auch mal in einem Armeeverein in irgendeiner Kaserne, wo nicht viel los ist. Auf der anderen Seite gibt es Spiele mit 7000 Zuschauern. In Großstädten tut sich Tischtennis in China mittlerweile auch ein bisschen schwerer, denn jedes Spiel wird im Fernsehen übertragen und es gibt jede Menge Konkurrenzangebote.

In China sind Sie ein Superstar, 2007 wurden Sie dort zum attraktivsten Sportler der Welt gewählt. Wie äußert sich dieser Starrummel?
Boll: Ich werde anders abgeschirmt als in Deutschland. Nach dem Spiel kommen sofort Soldaten, stehen Spalier und führen einen durch die drängelnden Massen zum Auto. Nach dem Rekordspiel in der deutschen Liga in Hamburg habe ich anderthalb Stunden Autogramme geschrieben – so etwas gibt es in China nicht. Zum Teil habe ich dort auch in Sportzentren gelebt, da kommt keiner rein, weil alles bewacht ist. Es gibt aber auch kaum Möglichkeiten rauszukommen, denn alle drei Tage ist ein Spiel. Hinzu kommen die weiten Reisen im Land und die vielen Trainingsstunden.

Timo Boll im Interview mit dem General-Anzeiger
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Warum spielen Sie immer wieder monatelang in China?
Boll: Es gibt viele positive Aspekte. Zum einen bringt es mich spielerisch weiter, ständig mit Chinesen zu trainieren und Wettkämpfe auf hohem Niveau zu bestreiten. Die Chinesen haben auf der Vorhand einen viel klebrigeren Belag als die Europäer. Dadurch ist die Flugkurve der Bälle ganz anders. Je häufiger man gegen Chinesen spielt, desto einfacher wird's auf Dauer. Aber ich will auch den wirtschaftlichen Aspekt nicht verhehlen. Die chinesischen Clubs zahlen sehr gut, zudem bin ich ja für meine Sponsoren Markenbotschafter in China, so dass eine persönliche Präsenz dort von Vorteil ist.

Gibt es Unterschiede zum Spielsystem in Deutschland?
Boll: Der Verband sieht die Liga ein bisschen als Testwerkzeug, um Erfahrungen mit möglichen Neuerungen zu sammeln. Manchmal werden Sätze nur bis zu sieben statt bis zu elf Gewinnpunkten gespielt, manchmal gibt es nur zwei statt drei Gewinnsätze. In den Playoffs experimentierten sie mit zweifarbigen Bällen.

Wie sahen die aus?
Boll: Die Bälle waren weiß und gelb mit einer schwarzen Linie. Ich finde das sehr interessant, weil es dem Zuschauer in Zeitlupenaufnahmen verdeutlicht, wie sich der Ball dreht. Viele fragen sich, warum hat der Spieler jetzt einen Fehler auf diesen Aufschlag gemacht? Da kann man wirklich sehen, mit welcher Rotation der Ball auf dem Belag trifft und wie er wegspringt. Mit der Rotation umzugehen, ist ja die große Kunst des Tischtennis.

Gibt es in der chinesischen Liga eigentlich viele ausländische Spieler?
Boll: Eigentlich nur Dimitrij Ovtcharov und mich. Vorigen Sommer hat auch noch ein Taiwanese in einer schlechteren Mannschaft mitgespielt.

Sprechen sie chinesisch?
Boll: Ein halbes Jahr lang habe ich es am Konfuzius-Institut gelernt. Wegen der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2012 in London habe ich mich dann auf Tischtennis konzentriert und es seither schleifen lassen. Ich kann mir etwas zu Essen bestellen, aber eine Unterhaltung zu führen ist schwer.

Wie ist Ihr Bild von China?
Boll: Inzwischen habe ich viele chinesische Bekannte und Freunde, die einem ein bisschen was erzählen. Bei Sponsorenterminen dort rede ich auch mit den chinesischen Angestellten. Ich kriege also viel mehr mit als ein normaler deutscher Bürger und habe dadurch ein ganz anderes Bild von China, als es in Deutschland vermittelt wird.

Hier steht das Land oft in der Kritik.
Boll: Ich sehe vor allem die Menschen und ihre Gastfreundschaft. Es ist unfassbar, was sich dort in den vergangenen 15 Jahren getan hat und welche Möglichkeiten sich den Menschen jetzt bieten. Natürlich gibt es Probleme. Aber man kann nicht erwarten, dass man jedes Problem innerhalb von 15 Jahren aus der Welt schafft, da haben wir in Deutschland auch ein bisschen gebraucht. China kommt von einem anderen Level und holt unglaublich auf. Die Großstädte werden nach westlichem Vorbild moderner, die jüngeren Menschen sind viel offener und gebildeter. Es ist auch nicht so, dass man nichts mitbekommt. Facebook und Twitter werden zensiert, aber man kann fast jede Internetseite der Welt aufrufen. Und nehmen wir das Beispiel Umwelt: Die ersten zehn Jahre, in denen ich nach China gereist bin, habe ich kein einziges Mal die Sonne klar sehen können. Mittlerweile ziehen die Wolkendecke oder der Smog ab und zu mal ab.

Zurück zum Sportlichen. Olympiasieger und Weltmeister Zhang Jike hat kürzlich gesagt, dass Sie für die Chinesen noch immer der gefürchtetste Gegner aus dem Ausland sind, obwohl Sie in der Weltrangliste abgerutscht sind.
Boll: Im Welttischtennis weiß jeder, dass ich immer noch mit der beste Spieler der Welt bin, wenn ich gesund bin. Ich bin in der Weltrangliste abgerutscht, weil ich wenig spiele. Ich werde älter und muss Abstriche machen, ökonomisieren nennt das mein Arzt. Ich streiche weder die Events von meinem Verein noch die Veranstaltungen in China. Aber bei der Tischtennis-World-Tour, die vergleichbar mit der ATP-Tour im Tennis ist, spiele ich nur noch die nötigsten Turniere. Ich war mehrmals die Nummer eins der Welt, das ist nicht mehr mein Ziel.

Wie lautet denn Ihr Ziel?
Boll: Ich möchte bei den großen Events vorne dabei sein. Da ist es egal, ob ich schon im Achtelfinale oder im Viertelfinale auf einen ganz starken Spieler treffe, denn ich werde an Medaillen gemessen. Die guten muss ich sowieso schlagen. Und die nächsten zwei, drei Jahre kann ich noch auf allerhöchstem Niveau spielen. Bei den Olympischen Spielen 2016 oder der WM 2017 in Düsseldorf möchte ich noch ein Wörtchen mitreden, vor allem aber gut spielen. Ich bin gar nicht so ein Medaillendenker.

Hat sich durch Ihre Familie, Sie haben inzwischen eine 15 Monate alte Tochter, der Blick auf den Sport verändert?
Boll: Der Ehrgeiz hat sich nicht verändert, meine Trainingsumfänge auch nicht. Aber ich organisiere das ganze Drumherum besser. So habe ich mir einen privaten Fitnesstrainer zugelegt, der bei mir im Ort wohnt. So spare ich zwei Stunden Autofahrt pro Tag, die ich jetzt für die Familie Zeit habe.

Ein Karriereende ist also noch nicht in Sicht?
Boll: Manche sagen, am Zenit soll man aufhören. Ich finde, so lange es Spaß macht und der Körper einigermaßen funktioniert, soll man weiterspielen. Ein Motivationsproblem habe ich auch noch nie verspürt. Ich habe noch genauso viel Spaß am Tischtennis wie mit 17 oder 20 Jahren.

Trotzdem: Wissen Sie schon, was Sie nach Ihrer aktiven Karriere machen wollen?
Boll:
Ideen habe ich natürlich schon. Der Sport hat mir eine gute Ausbildung gegeben, ich bin diszipliniert, fleißig und akribisch. Ich habe viel Know-how gesammelt und es wäre schade, wenn das für den deutschen Tischtennis-Sport verloren ginge. Ich kann mir aber auch etwas ganz anderes vorstellen, vielleicht irgendwas mit China. Ideen habe ich viele, aber ich bin noch so extrem in diesem Profidenken verhaftet, dass ich mich damit noch nicht zu viel beschäftigen möchte.

Zur Person:

Timo Boll wurde am 8. März 1981 in Erbach geboren. Mit vier Jahren nahm der Odenwälder erstmals einen Tischtennis-Schläger in die Hand, mit 13 Jahren spielte er Oberliga, mit 15 Jahren wurde er beim TTV Gönnern jüngster Bundesligaspieler und ein Jahr später Profi.Die Liste seiner Erfolge ist lang: Er gewann neun deutsche Meisterschaften und ist mit 16 Titeln – davon sechs im Einzel – Rekordeuropameister.

Viermal wurde er WM-Zweiter mit der deutschen Mannschaft. 2011 holte er dann bei der WM in Rotterdam mit Bronze die ersehnte Einzelmedaille; 2005 hatte es bereits Doppel-Silber gegeben. Bei Olympischen Spielen gewann er mit dem Team Silber in Peking und Bronze in London. Boll siegte fünfmal beim Europäischen Top-12-Turnier und gewann zweimal den World Cup.

Darüber hinaus holte er zahlreiche internationale Turniersiege. Als erster Deutscher erreichte er 2003 Platz eins der Weltrangliste; im Januar 2011 kehrte er noch einmal auf die Spitzenposition zurück. Mit seinem Verein Borussia Düsseldorf gewann er zahlreiche deutsche Meisterschaften und die Champions League.Boll ist verheiratet und hat eine Tochter.

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