Interview mit Ernährungswissenschaftler Hans Konrad Biesalski "Satt sein ist nicht genug"

BONN · Millionen Kinder leiden an Mangelernährung, obwohl man es ihnen nicht ansieht. Der Ernährungswissenschaftler Hans Konrad Biesalski erklärt, was es mit dem verborgenen Hunger auf sich hat. Die Fragen stellte Philipp Hedemann.

Weltweit leiden Milliarden Menschen unter verborgenem Hunger. Was verbirgt sich dahinter?
Hans Konrad Biesalski: Verborgener Hunger ist eine meist durch Armut bedingte und durch einseitige Ernährung hervorgerufene Form der Mangelernährung. Ein Drittel der Weltbevölkerung ernährt sich vorwiegend von stärkehaltigen Lebensmitteln wie Reis, Mais oder Weizen, weil sie billig sind und satt machen. Doch satt sein ist nicht genug. Mangelernährten Menschen fehlt es unter anderem an Vitaminen, Eisen, Zink, Jod, Selen, Spurenelementen und anderen lebensnotwendigen Mikronährstoffen. Rund 95 Prozent der zwei Milliarden Menschen, die an verborgenem Hunger leiden, leben in Schwellen- und Entwicklungsländern.

Sterben Menschen an verborgenem Hunger?
Biesalski: Ja. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben jedes Jahr rund sieben Millionen Kinder unter fünf Jahren an den Folgen von Mangelernährung. Doch hinter jedem sichtbar unterernährten Kind stehen zehn weitere Kinder mit Mangelernährung. Indem wir warten, bis der Mangel sichtbar wird, lassen wir uns blenden. Doch das Kind ist schon in den Brunnen gefallen, wenn der Mangel noch nicht mit bloßem Auge zu sehen ist. Deshalb gehe ich davon aus, dass es weltweit viel mehr mangelernährte Kinder gibt, als in den Statistiken auftauchen.

Aber nicht alle mangelernährten Kinder sterben...
Biesalski: Nein, aber wenn sie in den ersten 1000 Tagen nicht adäquat ernährt werden, wachsen sie nicht richtig und bleiben meist ihr Leben lang zu klein und anfällig für Krankheiten. Millionen erblinden jedes Jahr, weil ihnen Vitamin A fehlt. Bei Mangelernährten sinkt die Lebenserwartung massiv. Zudem ist die kognitive Entwicklung eingeschränkt. Mangelernährte Kinder tun sich mit dem Spracherwerb, dem Lesen- und Schreibenlernen schwerer, können sich im Unterricht schlechter konzentrieren, brechen die Schule überdurchschnittlich häufig ab, bleiben deshalb oft Analphabeten und so arm, dass sie später ihre eigenen Kinder nicht gut ernähren können. Das Problem wird so an die nächste Generation vererbt. Es ist ein Teufelskreis. Die UN-Ernährungsorganisation FAO schätzt, dass Mangelernährung jedes Jahr einen volkswirtschaftlichen Schaden in Höhe von 2,7 Billionen Euro anrichtet.

Gibt es eine Konkurrenz zwischen Tank und Teller?
Biesalski: Ja. Ich halte die jetzige Form der Biokraftstoff-Produktion für den größten Unsinn schlechthin, solange wir kein Konzept haben, welches verhindert, dass die Kraftstoffproduktion in Konkurrenz mit der Lebensmittelproduktion steht! Alles, was zur Ernährung beitragen kann, hat in der Kraftstoffproduktion nichts zu suchen.

Verschärft der Klimawandel das Hungerproblem?
Biesalski: Ja. Vor allem in Afrika führt der Klimawandel schon jetzt zu Austrocknung und Erosion der Böden. Dort geht so Anbaufläche verloren. Wenn dann in Zeiten großer Trockenheit wie beispielsweise vor zwei Jahren in den USA auch anderswo die Maisernte weitestgehend ausfällt, explodieren die Preise weltweit und viele arme Menschen können sich noch nicht mal mehr Mais leisten.

Was kann gegen verborgenen Hunger getan werden?
Biesalski: Die FAO und andere Organisationen propagieren weiterhin einseitig eine Steigerung der Erträge. Aber das ist nicht die Lösung. Wir brauchen nicht nur mehr Quantität, sondern vor allem mehr Qualität der Nahrung. Neben dem täglichen Getreide zur Sättigung braucht jeder Mensch Obst, Gemüse, tierische Produkte und Pflanzenöle. Dazu müssen teilweise auch die Ernährungsgewohnheiten geändert werden. Viele Menschen in Afrika oder Asien wissen einfach nicht mehr, wie sie gesundes Gemüse zubereiten und konservieren können. Oft ist es schon die zweite Generation, die durch Lebensmittelhilfslieferungen groß geworden ist. Ein satte, wenn auch mangelernährte, Bevölkerung ist politisch leichter führbar. Diese Erfahrung ist keinesfalls neu. Darum haben die Menschen oft einfach einen Sack Reis hingestellt bekommen. Sie wissen mit vielen Lebensmitteln, die bei ihnen wachsen, oft nichts mehr anzufangen. Woanders stehen alte Traditionen der gesunden Ernährung im Weg. In vielen Regionen Äthiopiens gelten beispielsweise Mangos als Affennahrung und werden deshalb verpönt, obwohl sie wertvolle Mikronährstoffe liefern könnten. Zudem müssen Ernteverluste verringert werden. In Äthiopien gab es 2007 eine Rekord-Ernte, und ein Jahr später eine Hungerskatastrophe, weil das Getreide in den Silos verrottet war.

Zur Person

Professor Hans Konrad Biesalski (65) studierte Medizin an den Universitäten Bonn und Mainz. Seit 1993 leitet der Ernährungsmediziner das Institut für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft an der Universität Hohenheim.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort