GA-Interview Hilmar Schneider: "Wir wären der ganz kranke Mann Europas"

BONN · Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn über die Hartz-Reformen und ihre Folgen.

 "Ausweitung des Niedriglohnsektors nicht zu kritisieren": Hilmar Schneider.

"Ausweitung des Niedriglohnsektors nicht zu kritisieren": Hilmar Schneider.

Foto: GA-Archiv

Am zehnten Jahrestag der Übergabe der Hartz-Empfehlungen: Wo stünde Deutschland heute ohne Hartz?
Hilmar Schneider: Jedenfalls nicht da, wo wir heute stehen. Wir würden wahrscheinlich Schlagzeilen machen als der ganz kranke Mann Europas. Das haben viele schon wieder vergessen. Wir waren alles andere als ein Musterland. Wir haben ziemlich vieles falsch gemacht.

Was war der Hauptfehler?
Schneider: Deutschland hat über lange Jahre versucht, Anpassungsprobleme über die Prämierung des Ausstiegs aus dem Erwerbsleben zu lösen. Das hat uns zunehmend an den Rand der Finanzierbarkeit gebracht. Ende der 90er Jahre floss jede vierte Mark des Bundeshaushalts in die Schuldentilgung. Mit der Hartz-Reform sind da ein paar Schalter umgelegt worden. Das haben auch die Väter dieser Reform völlig unterschätzt, was das für eine fundamentale Wirkung haben würde.

Der eigentliche Auftrag war ja nur der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg. War es ein Glücksfall, dass die Kommission darüber hinaus gegangen ist?
Schneider: Ja, ich glaube schon. Sie müssen wissen: Fast 40 Prozent des Beitragsaufkommens aus der Arbeitslosenversicherung flossen damals ohne ernsthafte Erfolgskontrolle in Maßnahmen der sogenannten aktiven Arbeitsmarktpolitik. Der Statistikskandal, also die völlig falschen Zahlen über erfolgreiche Vermittlungen, hat dann das Fass zum Überlaufen gebracht.

Was war das Beste an Hartz?
Schneider: Etwas, was die Initiatoren so überhaupt nicht erwartet hatten: die faktische Abschaffung der Frühverrentung unter anderem durch die Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Das heißt: Die Probleme werden seitdem viel weniger durch Abwälzung auf die Solidargemeinschaft gelöst. Arbeitssuchende und Unternehmen stehen wieder viel stärker selbst in der Verantwortung. Wer Mitte 55 war, konnte doch fast ohne Abstriche zehn Jahre früher in Rente gehen. Deutschland war einfach zu wohlhabend, um früh zu erkennen, dass man damit irgendwann gegen die Wand fahren musste.

Was hat die Zusammenlegung der Leistungen zum Arbeitslosengeld II bewirkt?
Schneider: Das hat massive Verhaltensänderungen, bei Arbeitnehmern wie Arbeitgebern, zur Folge gehabt. Jetzt haben sie noch zwölf Monate Zeit, sonst landen sie in der Sozialhilfe. Das ist für die Betroffenen ein Horror - und ein Antrieb. Menschen tun deshalb jetzt alles dafür, schnell wieder einen neuen Job zu finden. Sie nehmen Angebote an, die sie früher nie angenommen hätten. Das kann man bedauern, weil sie Entlohnungen akzeptieren, die sie früher nicht akzeptiert hätten. Aber das hat die Arbeitslosigkeit deutlich reduziert.

Ist die Ausweitung des Niedriglohnsektors zu kritisieren?
Schneider: Nein. Es gibt Flexibilitätsbedarf. Seit es die Frühverrentung faktisch nicht mehr gibt, hat sich dieser Bedarf neue Wege gesucht. Einer ist der Niedriglohn, ein anderer die Kurzarbeit. Ohne sie wäre die letzte Krise wegen des strikten Kündigungsschutzes zum Fiasko geworden.

Kurzarbeit, Leiharbeit, Niedriglohn sind also alles echte Jobmotoren?
Schneider: Ja. Deswegen wäre es fatal, wenn wir diese neuen Phänome jetzt durch neue Reglementierung stark eingrenzten. Das brächte Zeitarbeiter nicht in unbefristete Beschäftigung sondern in die Arbeitslosigkeit.

Das ist auch ein Plädoyer gegen Mindestlohn?
Schneider: Das Problem ist die Höhe des Mindestlohns. Mindestlohn ist gut gemeint, hilft aber nur denen, die ihren Job behalten. Ein Mindestlohn, der zu hoch ist, schadet de facto den Leuten, die man schützen will.

Wenn Hartz heute seine Kommission noch einmal zusammenriefe, was müsste er tun?
Schneider: Er müsste vor allen Dingen dafür sorgen, dass das, was er zustande gebracht hat, nicht wieder klammheimlich zerstört wird. Das aber passiert gerade.

Zur Person:
Hilmar Schneider, Jahrgang 1957, studierte Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Frankfurt. Nach seiner Promotion war er von 1983 bis 1987 Assistent an der Universität Frankfurt. 1994 wechselte er zum Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. In diese Zeit fällt auch ein längerer Aufenthalt am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. 2001 ging er als Direktor für Arbeitsmarktpolitik an das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA).

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