GA-Interview im Oktober 2015 Hans-Dietrich Genscher: "Wollen wir ein zweites Afghanistan?"

BONN · Hans-Dietrich Genscher sitzt entspannt, aufgeräumt und guter Dinge in der Bibliothek seines Hauses in Wachtberg-Pech. 25 Jahre deutsche Einheit in Europa: Das ist der Anlass des Interviews zum Nationalfeiertag. Mit Genscher sprachen Ulrich Lüke und Helge Matthiesen.

Herr Genscher, die deutsche Einheit ist vollzogen, ist die europäische Einheit durch die aktuelle Flüchtlingsbewegung gefährdet?
Hans-Dietrich Genscher: Nicht die Einheit, aber die Frage nach der Solidarität in Europa muss man schon stellen. Da könnten einem Zweifel kommen.

Wie weit muss die europäische Solidarität in dieser Frage gehen?
Genscher: Die Frage ist, ob die Flüchtlingsbewegung, die derzeit stattfindet, nur ein deutsches oder ein europäisches Problem ist. Ich halte es für ein Weltflüchtlingsproblem. Früher meinten wir mit Nachbarn Länder, mit denen wir eine gemeinsame Grenze hatten. Heute ist jeder unser Nachbar. Von der amerikanischen Hypothekenkrise war das letzte bayerische Dorf mit betroffen. Wir sind heute eine Weltgesellschaft. Das schafft eine vollkommen neue Verantwortung. Für die globalen Flüchtlingsprobleme ist sie Realität.

Die aktuelle Flüchtlingsbewegung hat viel mit dem blutigen Konflikt in Syrien zu tun. Muss man den Amerikanern vorhalten, das Problem nicht erkannt zu haben?
Genscher: Sie sind im Begriff zu erkennen, dass es dort eine amerikanische Verantwortung gibt. Ihre Frage ist also berechtigt.

Ist militärisches Eingreifen, wie es Ihr Parteifreund Alexander Graf Lambsdorff befürwortet, eine Option in Syrien?
Genscher: Sind alle anderen Optionen schon ausgeschöpft? Ich begrüße die Begegnung von Barack Obama und Wladimir Putin in New York. Wo ist das westliche Konzept, nach dem gemeinsam gehandelt wird? Wollen wir ein zweites Afghanistan oder wollen wir es jetzt - wir, der ganze Westen mit Russland - gemeinsam versuchen?

Sie beobachten in der Syrienfrage mit einer gewissen Zufriedenheit, dass Russland wieder ins Boot kommt?
Genscher: Ich habe jahrelang mit großem Interesse die Verhandlungen der Sicherheitsratsmächte und Deutschlands mit dem Iran beobachtet. Viele hielten sie für sinnlos. Und nun, ausgerechnet in einer Zeit großer Probleme zwischen West und Ost in Europa, kommt die Einigung zustande, obwohl Moskau leicht einen Grund hätte finden können, sie nicht zustande kommen zu lassen.

Das heißt?
Genscher: Moskau signalisiert, dass man bei gemeinsamen Problemen zusammenarbeitet. Iran ist so ein gemeinsames Problem, Syrien auch. Wenn Moskau also bereit ist, in ein gemeinsames Boot einzusteigen, sollte man sich nicht abwenden, sondern zuwenden. Diese Einsicht setzt sich gerade in Washington durch.

Ist europäische Einheit vor 25 Jahren eigentlich missverstanden worden? Sollte es nicht immer eine Einheit mit Russland sein?
Genscher: Diese Frage bewegt mich und ich habe dazu in meinem gerade erschienenen Buch "Meine Sicht der Dinge" ausführlich Stellung genommen. Für mich war der Mauerfall das Ende der Teilung Deutschlands und genauso das Ende der Teilung Europas. Aus manchen Erklärungen, die man heute hört, muss ich entnehmen, dass manche das eher verstanden haben als eine Verlegung der Teilungslinie durch Europa weiter nach Osten. Das wäre ein Missverständnis, das Ursache neuer Spannungen ist und noch werden kann. In diesem Monat jährt sich die Unterzeichnung der Charta von Paris zum 25. Mal. Das war ein Dokument, das Kooperation für ganz Europa vorsah.

Daraus ist nicht viel geworden...
Genscher: Ich finde, man sollte sich schnellstens im Kreis der Unterzeichnerstaaten von 1990 zusammenfinden, um auf dieser Grundlage weiter zu arbeiten. Jeder sollte sich selbst fragen: Stehen wir noch zu dem, was wir 1990 nicht nur für Deutschland festgelegt haben, sondern für das ganze Europa, ja für die ganze nördliche Halbkugel von Vancouver bis Wladiwostok. Wenn sich eine solche Gruppierung zu gemeinsamem Handeln verpflichtet fühlte, wäre das ein zusätzlicher Stabilisator für die entstehende neue Weltordnung. Deutschland übernimmt am 1. Januar 2016 den Vorsitz in der OSZE - ein gutes Datum für einen mutigen Neuanfang im Rahmen der OSZE.

" Rücken zu Rücken kann man sich schlecht unterhalten"

Steht Russlands Politik in der Ukraine dem nicht im Wege?
Genscher: Was einem nicht gefällt, muss man mit dem anderen besprechen, um Einvernehmen herzustellen. Wenn man etwas als nicht akzeptabel empfindet, muss man mit der anderen Seite darüber reden. Wären wir im Kalten Krieg in der Konfrontation verharrt, wäre Deutschland heute noch geteilt. Selbst wenn die Gegensätze groß sind, muss man irgendwo anfangen, sie abzubauen. Rücken zu Rücken kann man sich schlecht unterhalten.

Macht es Sie traurig, dass aus der Charta von Paris nichts geworden ist und hat der Westen Putin falsch behandelt?
Genscher: Zur ersten Frage: Dass man aus der Charta nicht gemacht hat, was man daraus hätte machen können, bedauere ich in der Tat. Was das Verhalten gegenüber Putin angeht: Der russische Präsident hat begleitet von Standing Ovations vor dem Deutschen Bundestag westliche Ideen für eine gesamteuropäische Freihandelszone unterstützt. Was ist daraus geworden? Vom Westen her - nichts! Wenn wir damals Verhandlungen über eine solche Freihandelszone aufgenommen hätten, dann wäre die Annäherung der Staaten östlich von uns an die EU in Moskau völlig anders gesehen worden. Moskau hätte sich dann in seinem Status nicht herabgestuft betrachtet. Deutschland wird im kommenden Jahr den Vorsitz der OSZE übernehmen. Deutschland könnte diesen Vorsitz zu einer Initiative für eine Wiederbelebung der OSZE über das heutige Maß hinaus ergreifen. Wenn sich in diesem Monat die Unterzeichnung der Charta von Paris zum 25. Mal jährt, wäre das eine gute Gelegenheit, sich in Paris im Kreise der OSZE wieder zu treffen und einen neuen Beschluss zu fassen.

Das Bild Europas ist nicht gut...
Genscher: Europa wird immer häufiger benutzt als Prügelknabe für eigene Probleme und eigenes Versagen. Wenn etwa davon die Rede ist, "das müssen wir so machen, weil Brüssel es so will". Brüssel ist doch keine fremde Besatzungsmacht, die anordnen kann, was bei uns geschieht. In Wahrheit sind wir in Brüssel in der Kommission vertreten, im Europäischen Parlament, im Europäischen Rat. Also: Brüssel - das sind wir alle.

Der Bundespräsident möchte, dass Deutschland mehr Verantwortung wahrnimmt. Können Sie damit etwas anfangen?
Genscher: Die Frage ist, was damit gemeint ist. Wer meint, wir müssten endlich mehr Verantwortung übernehmen, liegt falsch. Das meint der Bundespräsident gewiss nicht. Denn die Bundesrepublik hat von Anfang an eine hochverantwortliche Politik gemacht. Mit der Entscheidung für den Westen, für die Nato und für die europäische Einigung. Dann folgte die Ostpolitik. Ohne die deutschen Ostverträge hätte es den gesamten KSZE-Prozess nicht gegeben. Dieses Deutschland hat in der Vergangenheit seine Verantwortung erfüllt.

Und die neue Verantwortung?
Genscher: Das ist nicht allein eine deutsche Verantwortung. Die globalen Herausforderungen sind heute für alle neu. Und damit die Verantwortung. Wenn es so gemeint ist, stimme ich zu. Ansonsten müsste ich es zurückweisen.

Macht Ihnen die Tendenz zur Renationalisierung in Europa Sorgen?
Genscher: Es kann einem Land - auch Deutschland - auf Dauer nicht gut gehen, wenn es den anderen Ländern in der EU schlecht geht. Europäisierung, aber auch Globalisierung bedeutet, dass wir ein gemeinsames Schicksal haben. Ein nationaler Egoismus würde also genau das bewirken, was man damit angeblich vermeiden will.

Hat Europa in der Politik noch die nötige Aufmerksamkeit?
Genscher: Wir müssen parallel zu den akut anstehenden Aufgaben daran gehen, Europa weiter zu bauen. Und zwar nicht erst morgen oder übermorgen, sondern jetzt. Wer glaubt, es gebe jetzt genug Europa, provoziert Stau, Rückstau, Rückschritt. Die Probleme, die wir in Europa haben, haben wir nicht durch zu viel, sondern durch zu wenig Europa.

"Ich will mich hier nicht als Spezialist aus dem Rentnerstuhl aufführen"

Und wo sehen Sie zu wenig Europa?
Genscher: Im Verständnis des gemeinsamen Schicksals. Es gibt nicht einen Staat, der für sich selbst gewinnen würde, wenn er aus der EU ausscheiden würde.

Es gibt den Euro, aber es gibt zum Beispiel keine europäische Wirtschafts- oder Steuerpolitik. Sind das Entwicklungslinien, die Ihnen vorschweben?
Genscher: Ja sicher, schon damals. Die Gegner der Währungsunion, auch bei uns, haben ja die Wirtschaftsunion nicht verhindern können, aber sie haben einen Teilerfolg erzielt, als sie Wichtiges für die Währungsunion verweigerten. Das heißt: Die heutigen Ankläger sind eigentlich die Verursacher von gestern. Eine Weiterentwicklung der Verträge ist unbedingt erforderlich. Ich habe nicht das Gefühl, dass das überall schon gesehen wird. Wir brauchen eine offensive Europadebatte, nicht eine defensive. Und erforderlich ist natürlich auch, dass getroffene Vereinbarungen eingehalten werden. Da ist die deutsche Bilanz so positiv nicht. Hat nicht eine frühere deutsche Regierung damit begonnen, die Verschuldungsgrenzen zu überwinden?

Die EU hat keinen Plan für ihre Weiterentwicklung...
Genscher: Wenn nur der Plan fehlen würde, wäre ich weniger beunruhigt. Aber es scheint, dass manche noch nicht einmal die Idee haben, dass man einen Plan braucht, dass eine weitere Vervollkommnung der EU erforderlich ist.

25 Jahre deutsche Einheit. Was ist dabei das Positivste, was fehlt Ihnen noch?
Genscher: Das Zusammenwachsen ist weitgehend gelungen. Ich verstehe, dass es eine große Völkerwanderung innerhalb des Landes gegeben hat. Es hat Fehler gegeben, etwa in der wirtschaftlichen Förderung. Wir hätten von Anfang an nicht nur Ladentische, sondern auch Werkbänke im Osten gebraucht, das heißt, wir hätten die Schaffung von Arbeitsplätzen im Osten, die Produktion dort stärker fördern sollen. Dort, wo große Bildungsinvestitionen getätigt wurden, sind auch Wachstumsinseln entstanden.

Macht Ihnen eine größere Fremdenfeindlichkeit im Osten Deutschlands Sorgen?
Genscher: Ausländerfeindlichkeit ist überall,wo sie auftritt, schrecklich. Es gab sie im Westen schon vor der Vereinigung. Ich würde aus diesem Thema deshalb auch keine neue Ost-West-Diskussion entstehen lassen wollen. Aber große Sorgen macht mir das alles schon.

Was ist Ihr Wunsch für die nächsten zehn Jahre deutsche Einheit?
Genscher: Ich würde mir wünschen, dass es ein Land des Friedens ist, in einer friedlichen Umwelt, zu der Europa beispielhaft beiträgt. Es ehrt Deutschland immer, wenn es ein Land des guten Beispiels ist.

Was meinen Sie konkret?
Genscher: Das heißt, dass Europa zeigt, dass eine Staatengemeinschaft zum gemeinsamen Wohl immer enger zusammenwachsen kann.

Zurück zu den Flüchtlingen. Der aktuelle Bundesaußenminister hat kürzlich gesagt, es könne nicht sein, dass faktisch nur vier Länder Flüchtlinge in erheblicher Zahl aufnähmen.
Genscher: Das ist in der Tat eine Frage der inneren Befindlichkeit der Europäischen Union. Solidarität kann nie durch Ausschluss, sondern immer nur durch Einschluss geleistet werden.

Würden Sie für Länderquoten plädieren?
Genscher: Aus meinem Gefühl heraus liegt das nahe. Aber ich will mich hier nicht als Spezialist aus dem Rentnerstuhl aufführen.

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