Patientensicherheit "Haftpflichtfälle sind wirklich nur die Spitze des Eisbergs"

Tanja Manser (41) ist Arbeits- und Organisationspsychologin. Am Institut für Patientensicherheit (IfPS) der Universität Bonn hat sie die einzige Professur mit diesem Forschungsschwerpunkt in Deutschland. Diese Professur wird maßgeblich von dem Aktionsbündnis Patientensicherheit gefördert, das von Geldgebern aus dem Gesundheitswesen wie Krankenkassen und Ärztekammern finanziert wird. Mit Manser sprach Ariane Fries.

 Tanja Manser, einst an der ETH Zürich (Schweiz), arbeitet jetzt am Bonner Institut für Patientensicherheit.

Tanja Manser, einst an der ETH Zürich (Schweiz), arbeitet jetzt am Bonner Institut für Patientensicherheit.

Foto: Ariane Fries

Was sind Behandlungsfehler?
Tanja Manser: Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn ein unerwünschtes Ereignis passiert, das den Patienten schädigt oder potenziell schädigen könnte. Bei einem Medikationsfehler muss der Patient noch nicht die Nebenwirkung erfahren haben, sondern es kann sein, dass die Nebenwirkung erst auftritt, wenn man das Medikament über einen längeren Zeitraum einnimmt. Aber trotzdem ist der Fehler schon passiert, wenn der Patient dieses Medikament zum ersten Mal verordnet bekommt. Für uns ist immer relevant zu wissen: Warum konnte der Fehler ursprünglich passieren? Deswegen sind eben auch diese Beinahe-Schädigungen oder Beinahe-Fehler eigentlich das Spannende für uns. Die tatsächlichen Haftpflichtfälle sind wirklich nur die Spitze des Eisberges.

Vier Mal mehr Menschen kommen durch Behandlungsfehler ums Leben als im Straßenverkehr. Wie realistisch sind solche Aussagen der AOK?
Manser: Eigentlich ist das nur etwas, was jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, schon seit 20 Jahren weiß. Und auf einmal wird das als "Zahlen von der AOK" diskutiert. Den Vergleich mit den Unfalltoten hat das Institut of Medicine 1999 auch schon herangezogen. Das sind Zahlen, die genutzt werden, um dem Laien einen Vergleichsmaßstab zu geben, und auch um politisch zu argumentieren, wie viel Geld etwa in Verkehrs- und wie viel in Patientensicherheit fließt. Für mich stellt sich vor allem die Frage: Wann sind es genug Behandlungsfehler, damit man anfängt, etwas zu unternehmen?

Haben Sie persönlich Grenzen?
Manser: Nein, für mich geht es in erster Linie darum, die Gesundheitsversorgung zu optimieren und ein höchstmögliches Maß an Patientensicherheit zu erreichen. Es wird nie null Todesfälle im Krankenhaus geben. Es geht darum, alles zu unternehmen, um die Zahl vermeidbarer Schädigungen zu minimieren. Dazu braucht es für mich eine Wertediskussion und kein Anprangern von Ärzten und Pflegekräften. Wir brauchen eine offene Diskussion über die Probleme und eine saubere Analyse.

Welche Rolle spielt der Faktor Zeit im Zusammenhang mit Behandlungsfehlern?
Manser: Wir wissen, dass Menschen unter Zeitdruck nicht so gut entscheiden und nicht umfangreich Informationen suchen, als wenn sie ausreichend Zeit hätten. Klar, wenn es mehr Personal gäbe, hätte man mehr Zeit, bestimmte Dinge zu machen. Aber mehr Zeit würde auch nicht alle Probleme lösen. Das ist immer in Kombination mit anderen Faktoren zu sehen.

Die Krankenschwester vertauscht Medikamente und Ärzte operieren die falsche Seite. Szenarien wie diese passieren. Da stellt sich doch die Frage, ob solche Vorkommnisse nicht mit mehr Zeit hätten vermieden werden können. Zumal der Faktor Zeit im Vergütungssystem (DRG) erst gar nicht berücksichtigt wird.
Manser: Es ist tatsächlich so, dass ein Gespräch mit dem Patienten und den Angehörigen nicht abrechenbar ist. Obwohl dort wichtige Details, wie Medikamentenverträglichkeit, besprochen werden. Manche investieren diese Zeit obendrauf. Und andere eben nicht. Das sind wieder die ökonomischen Interessen, die sich mit den Sicherheitsinteressen nicht wirklich in Einklang bringen lassen.

Was kann denn der Patient tun, um sich selbst zu schützen?
Manser: Er sollte wachsam sein. Denn auch er trägt Verantwortung für sich. Man muss den Ärzten ein stückweit vertrauen, weil sie die Experten sind, aber gleichzeitig muss man sich auch selbst informieren über bestimmte Abläufe. Wenn die Medikamente etwa auf einmal anders aussehen als die Tage vorher, ist ein Nachfragen durchaus sinnvoll. Fehlmedikationen werden relativ häufig von Patienten und ihren Angehörigen entdeckt. Patienten sollten ihre Autonomie nicht vollständig mit Betreten des Krankenhauses abgeben.

Sollten Statistiken zu Behandlungsfehlern hellhörig werden lassen?
Manser: Ja, hellhörig in dem Sinne, dass man als mündiger Patient in ein Krankenhaus geht. Es ist riskant, in eine Klinik zu gehen. Aber es ist auch riskant, mit einem Auto zu fahren oder in ein Flugzeug zu steigen. Aber wir treffen die Entscheidung . . .

...und so ein Behandlungsfehler kann keine, kleine oder verheerende Folgen haben.
Manser: Es gibt das ganze Spektrum. Es geht darum, ob bei einem unerwünschten Behandlungsereignis ein Fehlverhalten vorlag. Auch bei korrektem Vorgehen kann es zu einem negativen Behandlungsergebnis kommen. Das muss im Zweifelsfall vor Gericht entschieden werden. Die Folgen eines Behandlungsfehlers in Euro auszudrücken, geht eigentlich nicht. Wenn so ein tragischer Vorfall passiert, dann gehört es auch zur Verantwortung eines Krankenhauses, sich um die Folgen zu kümmern und die Auswirkungen zu mildern.

Was meinen Sie damit genau?
Manser: Die Ärzte und das Krankenhaus sollen sich bestmöglich um eine Information und weitere Behandlung ihrer Patienten kümmern. Auf eine Klage zu warten, ist da nicht angebracht, sondern wer von einem Fehler weiß, der soll sich mit den Folgen auseinandersetzen und die Betroffenen informieren. Oft wird aber den Ärzten geraten, gar nicht mehr erreichbar zu sein. Es wird befürchtet, das könnte wie ein Schuldeingeständnis gewertet werden. Dabei ist eine Information an Patienten nicht mit einem Eingeständnis gleichzusetzen. Häufig klagen Patienten, weil sie keinen anderen Weg sehen, an verlässliche Informationen zu kommen.

Ist unser Gesundheitssystem überhaupt in Ordnung?
Manser: Im Grundsatz schon, aber es gibt Optimierungspotenzial. Was in der Diskussion häufig untergeht: Auch das Personal leidet. Das sind nicht nur ausführende Elemente. Eine stark belastete Person, die unter großem Stress steht, kann nicht unbedingt die optimale Leistung erbringen. Daher ist es wichtig, dass wir uns auch um die Gesundheit von Ärzten und Pflegenden kümmern. Damit sie langfristig in diesen Berufen bleiben und eben diese sichere Leistung erbringen können. Investition in das Personal im Gesundheitswesen ist auch eine Investition in Patientensicherheit.

Also müsste aufgehört werden zu sparen?
Manser: Wenn man nur Sicherheit im Kopf hat, dann ja. Aber das können wir uns ja dann wieder nicht leisten. Es muss eine Balance gefunden werden. Sicherheit muss man eigentlich permanent schaffen. Das ist kein Zustand, den man irgendwann erreicht hat.

Wir haben eigentlich ein recht finanzstarkes Gesundheitssystem. Jedenfalls im Vergleich zu anderen Ländern in Europa . . .
Manser: Das kommt immer auf die Perspektive an. Wenn man es international vergleicht, stehen wir vielleicht noch ganz gut da. Aber es gibt einen enormen Kostendruck. Und Sparen und Erhöhung von Sicherheit ist bisher in noch keiner Industrie gut gegangen. Sparmaßnahmen können eben häufig auch die Sicherheit reduzieren. Dessen muss man sich bewusst sein.

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