Interview mit Hans Walter Hütter Ein Ende mit Schrecken

Bonn · Vor 70 Jahren endete mit der Befreiung der Konzentrationslager und der Kapitulation des Deutschen Reiches der Zweite Weltkrieg. Der 27. Januar und der 8. Mai haben sich dennoch nicht als Gedenktage in der Bevölkerung durchgesetzt. Woran liegt das? Wie funktioniert Erinnerungskultur? Was bezweckt sie? Der Präsident der Bonner Stiftung Haus der Geschichte, Hans Walter Hütter, spricht über Jahrestage, Perspektivwechsel und eine drohende Inflation der Gedenktage

Die Folgen des schrecklichen Krieges waren noch allgegenwärtig - Trümmer, traumatisierte Bürger, Soldaten in Gefangenschaft -, da sinnierte im Jahr 1949 der spätere Bundespräsident Theodor Heuss über den Tag der Kapitulation: "Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind." Von der großen Mehrheit seiner Zeitgenossen wurde dieser 8. Mai als katastrophale Niederlage, als mögliches "finis Germaniae" bewertet.

Erst spät entwickelte sich eine neue Perspektive. Die formulierte Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 am 40. Jahrestag des Kriegsendes im Bundestag, als der ehemalige Wehrmachtsoffizier den 8. Mai im Kern als "Tag der Befreiung" charakterisierte. Die Debatte um diesen schwierigen Gedenktag nimmt einigen Raum in der hervorragenden Ausstellung "Festakt oder Picknick? Deutsche Gedenktage" im Bonner Haus der Geschichte ein (sie läuft bis 6. April). Wie entstehen Gedenktage? Wie funktioniert Erinnerungskultur und wo kippt sie um in inflationäre Rituale? Welche Funktion haben Gedenktage? Über diese Fragen sprach der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte mit Thomas Kliemann.

Museen und Sendeanstalten, Buchverlage und auch die Presse schauen gebannt auf Jahres- und Gedenktage, richten ihre Programme daran aus. Wie funktioniert Erinnerungskultur, wo beginnt eine Gedenktags-Inflation?

Hans Walter Hütter: Wir stellen in den letzten Jahren eine Tendenz fest, dass zunehmend historische Daten genutzt werden, um Ereignisse breit zu dokumentieren. Wenn man sich intensiver damit beschäftigt - was wir im Zusammenhang mit unserer Ausstellung "Festakt oder Picknick: Deutsche Gedenktage" getan haben -, muss man zwei Dinge unterscheiden: Die alljährlichen Gedenk- und Feiertage sind das eine, der 17. Juni oder zum Beispiel der 3. Oktober. Jubiläen der Jahrestage sind das andere - 25, 50, 75, 100 Jahre. Letztere werden besonders wahrgenommen. Mit dem Jahrestag zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten wir 2014 einen echten "Hype".

War das nicht vorauszusehen?

Hütter: Ich habe die Reaktionen nicht so stark erwartet. Der Erste Weltkrieg hat in Deutschland - das ist in Frankreich und England ganz anders - in der Öffentlichkeit und in der Forschung der letzten Jahrzehnte kaum eine Rolle gespielt. Er wurde überlagert vom Zweiten Weltkrieg, vom Holocaust und in der jüngeren Vergangenheit von der Wiedervereinigung. Ab Ende 2013 und dann 2014 hat der Erste Weltkrieg eine ungeheure Bedeutung bekommen, das wird wohl in den nächsten Jahren anhalten. Die Forschung hat in diesem Umfeld Fortschritte gemacht - auch dies lösen Jahrestage aus. Es gibt neue Ergebnisse und neue Perspektiven.

Zum Beispiel?

Hütter: Zum Beispiel die übernationale Betrachtung historischer Phänomene. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang das Buch "Bloodlands" von Timothy Snyder, das der Autor auch im Haus der Geschichte vorgestellt hat. Er betrachtet die Diktaturen der 1930er und 1940er Jahre über die nationalen Grenzen hinaus. Der historische Raum, die Perspektive ist neu definiert. Damit verändern sich auch Bewertungen.

Ein Buch von erschreckender Aktualität, denn das Kerngebiet der "Bloodlands" ist die Ukraine, und die heutige Krise wurzelt in diesem historischen Raum.

Hütter: Das konnte Snyder nicht ahnen, als er "Bloodlands" schrieb. Christopher Clark nimmt in seinem Buch zum Ersten Weltkrieg "Die Schafwandler" eine ähnliche Perspektive ein. Er verlässt die streng nationale Betrachtung und siedelt seine Analyse im europäischen Raum an.

Sie haben die Jahrestag-Taktung 25, 50, 75, 100 erwähnt. Im Fall des Ersten Weltkriegs bedeutet das, dass es keine Zeitzeugen mehr gibt, die man befragen kann. Sollte man nicht früher mit der Erinnerungsarbeit beginnen, um noch möglichst viele Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen?

Hütter: Schon 75 Jahre sind problematisch. Wer vor 75 Jahren in Verantwortung stand, ist heute auch schon über hundert. Für mich ist die entscheidende Frage eine andere: Geschichte lässt sich auch ohne Zeitzeugen erforschen, sonst wüssten wir heute nichts über die römische Geschichte. Der Zeitzeuge ist als Geschichtsquelle erst seit den 1960er und 1970er Jahren wirklich relevant - mit allen Problemen, die ein Zeitzeuge mit sich bringt. Man sollte ihn allerdings nicht übersehen, wenn es um Zeitgeschichte geht, er bereichert die Forschung. Es gibt keine Phase in der deutschen Geschichte, die so gut erforscht ist wie der Nationalsozialismus. Ähnlich gut dokumentiert ist die Phase der SED-Diktatur.

Glauben Sie, dass es in der Bevölkerung ein Bedürfnis nach Gedenk- und Jahrestagen gibt, nach einer Art von Erinnerungskorsett, einer Struktur und Orientierungshilfe?

Hütter: Jubiläen und jährlich wiederkehrende Gedenktage haben ihre Bedeutung in einer Gesellschaft, die von einer Masse an Informationen überflutet wird. Diese Tage bieten Orientierung, sie fokussieren. Die Menschen nutzen das Angebot. Es gibt aber auch Gefahren: Zu viele solcher Tage und zu lange Erinnerungsphasen führen am Ende zu Desinteresse. Ein Beispiel ist das Luther- und Reformationsjubiläum 2017: Das Jahr selber und das Thema werden eine große Rolle spielen, aber die von der evangelischen Kirche vorgeschaltete Luther-Dekade ist meines Erachtens im öffentlichen Bewusstsein nicht angekommen.

Es gibt den Tag der Jogginghose, der Tiefkühlkost, und, und, und. Eine wahre Gedenktags-Inflation.

Hütter: Ich halte viele Tage für völligen Unsinn! Aber selbst bei historischen Jubiläen sehe ich die Gefahr einer Inflationierung. Man muss sich konzentrieren. Unsere Ausstellung haben wir uns auf etwa ein Dutzend in West- und Ostdeutschland eingeführte Gedenktage fokussiert.

Wobei man in Ihrer Gedenktags-Ausstellung auch schön sehen kann, dass es immer wieder von oben angeordnete Feiertage gab, die sich aber in der Bevölkerung nicht durchsetzten.

Hütter: Ja, der 27. Januar - Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz -, der von Bundespräsident Roman Herzog zum Gedenktag erhoben wurde, ist ein wirklich wichtiges, markantes Datum, das aber von der breiten Bevölkerung nicht angenommen worden ist. Zwar gibt es viele private Initiativen, Schulen organisieren Veranstaltungen und Institutionen erinnern daran, aber ein allgemeines Bewusstsein für diesen Tag gibt es nicht.

Gibt es für dieses Phänomen eine Erklärung?

Hütter: Gedenktage funktionieren nie aus sich selbst heraus. Sie brauchen immer ein gesellschaftliches und politisches Umfeld. Und sie sind immer politisch und - bei gewissen Systemen - ideologisch aufgeladen. Der 8. Mai war im Westen und Osten ein besonderer Tag - mit völlig unterschiedlicher Gewichtung. In der DDR wurde der 8. Mai als "Tag der Befreiung vom Faschismus" ideologisiert, in der Bundesrepublik zählt er nicht zu den öffentlichen Gedenk- und Feiertagen. Lediglich im Bundestag finden Gedenkveranstaltungen statt.

Sie nennen ihre aktuelle Ausstellung "Festakt oder Picknick?". Wenn man genau hinsieht, möchte man das "oder" durch ein "und" und das Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen ersetzen. Ist das das Erfolgsrezept für Gedenktage?

Hütter: Gedenktage funktionieren im öffentlichen Bewusstsein immer dann, wenn sie arbeitsfrei sind. Gedenktage, die nicht arbeitsfrei sind, werden schnell übersehen. Selbst wenn die Menschen am 17. Juni zum Picknick gingen, oder am 3. Oktober einen Herbstspaziergang machen, und keine Veranstaltung besuchten oder besuchen, waren und sind es besondere Tage. Ziel ist es, Aufmerksamkeit zu schaffen und die Frage zu stellen: Warum ist der Tag arbeitsfrei? Gedenktage, die nicht arbeitsfrei sind – etwa der 27. Januar -, dringen nicht so tief in das öffentliche Bewusstsein.

Gibt es weitere Gedenktage, die nicht angenommen wurden?

Hütter: Der 23. Mai, der Tag des Grundgesetzes, hat auch nach der Wiedervereinigung keine höhere Bedeutung bekommen - immerhin ist es der Verfassungstag. Er wird im Bundestag von den Abgeordneten offiziell gewürdigt, kommt aber in der Bevölkerung nicht an.

Siebzig Jahre Kriegsende - die Klammer reicht von der Befreiung der Konzentrationslager über die Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. Mai bis zum Auftakt der Nürnberger Prozesse Ende November: Ist das für Sie, für das Haus der Geschichte ein Thema?

Hütter: Natürlich ist das für uns ein Thema, aber nicht wegen des 70. Jahrestags. Ich halte auch den 70. Jahrestag nicht für eine relevante Zäsur. Für uns ist es ein Thema der alltäglichen Museumsarbeit. Der 8. Mai ist im Haus Auftakt der Dauerausstellung. Dieses Kapitel ist wie eine eigene Ausstellung innerhalb der Dauerausstellung. Und die Nürnberger Prozesse bilden eine eigene Einheit, sie stehen im Kontext zu diesem Thema.

Fast das gesamte Erdgeschoss der Dauerausstellung kreist um die Kapitulation und die Entwicklung unmittelbar nach dem Krieg.

Hütter: ...und das mit fantastischen Objekten. Ich erinnere nur an den Durchschlag der Kapitulationsurkunde vom 8. Mai 1945. Für uns und die Besucher ist das so etwas wie ein Startpunkt, eine Basis. Der 27. Januar, der 8. Mai, der 17. Juni oder der 3. Oktober sind in unserer Dauerausstellung feste Bestandteile - unabhängig von Gedenk- oder Feiertagen.

Planen Sie etwas zum 27. Januar?

Hütter: Am 27. Januar werden wir den Film "Im Labyrinth des Schweigens" zeigen - vormittags für Schüler, mit Gesprächen in der Dauer- und Wechselausstellung, abends für Erwachsene. Der Film läuft noch in den Kinos, es war nicht einfach, ihn für das Haus der Geschichte zu bekommen. Durch die Verknüpfung mit der Ausstellung wird er sicherlich eine andere Wirkung erzielen als im Kino. Solche Veranstaltungen sind für uns Verpflichtung für die politische und historische Bildung.

Zur Person Und die Erinnerung an die Kapitulation am 8. Mai?

Hütter: Um den 8. Mai herum werden wir eine Reihe von Veranstaltungen anbieten. Wir werden u.a. Zeitzeugen einladen. Wir hoffen, ein prominentes Zeitzeugenpaar nach Bonn zu holen - Näheres will ich jetzt nicht verraten, es handelt sich um einen Wehrmachtsangehörigen und seine jüdische Ehefrau. Eine weitere Veranstaltung wird versuchen, die internationale Perspektive dieses 8. Mais zu beleuchten. Wie wird dieses Ereignis heute bewertet, auch im Hinblick auf die neueren Forschungen zum Ersten Weltkrieg? Wie sehen der britische Historikerkollege, wie die französische Kollegin heute den 8. Mai? Wir wollen dieses Datum auch nutzen, um aktuelle Fragen zu stellen.

Wie hat sich die Perspektive auf den 8. Mai verändert?

Hütter: Befreiung oder Niederlage? Das waren zentrale Fragen unserer Väter. Die Zeitzeugengeneration hat das ganz anders gesehen als die der Töchter und Söhne. Bis in die 1960er Jahre hinein war die Bewertung des 8. Mai ambivalent. Das ist ähnlich wie beim 20. Juli - dem Tag des Attentats auf Hitler im Jahr 1944. Jahrzehnte lang war dieser Tag im Bewusstsein der breiten Bevölkerung kein Thema. Im Gegenteil: Die Attentäter des 20. Juli wurden von vielen als Verräter betrachtet. Die Witwen einiger nach dem Attentat hingerichteter Widerstandskämpfer mussten bis 1990 kämpfen, um eine Rente zu bekommen. Unvorstellbar! Auch da bedurfte es der Zeit und des Perspektivwechsels. Letzteres können Gedenktage ermöglichen. Aber man darf sie nicht überfrachten und nicht überfordern.

Wird das Publikum durch die Erinnerungs-Maschinerie rund um den Ersten Weltkrieg überfordert?

Hütter: Ich bin neugierig, wie sich der "Hype" um den Ersten Weltkrieg weiter entwickelt. Es wird sicherlich in den nächsten zwei Jahren etwas weniger werden. 2018 - in Erinnerung des Kriegsendes - wird die Aufmerksamkeit wieder anwachsen. Dann wird vermutlich der Bezug zur Weimarer Republik und zum Beginn des Zweiten Weltkriegs eine stärkere Rolle spielen. Auch hier hoffen wir auf neue Forschungsperspektiven. Es gibt ja Defizite: Was zum Beispiel immer noch weitgehend fehlt, ist der Blick auf die Ostfront im Ersten Weltkrieg.

Neue Aufgaben für die Forschung?

Hütter: Alle Lücken schließen können auch Gedenktage nicht. Für bedenklich halte ich es, wenn sich Forschungs-, Ausstellungs- und Weiterbildungsprogramme nur oder maßgeblich an solchen Daten orientieren. Man muss sich als Institution auch davon lösen können und Themen ansprechen, die nicht einem Datum hinterherhecheln.

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