"Die SPD wird weiter Schutzmacht der kleinen Leute sein"

Die stellvertretende Parteivorsitzende und Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann über Angela Merkel, die Politik von Schwarz-Rot, die Stärkung der Mittelschicht und das deutsche Engagement im Nahen Osten

Bonn. Für Bärbel Dieckmann, stellvertretende Vorsitzende der SPD, dürfen die mittleren Schichten nicht zu Verlierern der Globalisierung werden. Sie sieht ihre Partei in der Pflicht, die Menschen zu unterstützen. Mit ihr sprachen Ulrich Lüke und Joachim Westhoff.

General Anzeiger: Frau Dieckmann, Frage an eine Politikerin über eine Politikern: Was schätzen Sie an Angela Merkel?

Bärbel Dieckmann: Sie ist eine kluge Politikerin, die zuhören kann und die die Große Koalition gut moderiert. Das schätze ich an ihr.

GA: Die Konjunkturdaten, die Arbeitsmarktdaten, die Haushaltsdaten werden besser, die Noten für die große Koalition immer schlechter. Wie erklären Sie sich dies?

Dieckmann: Es ist nach einem Jahr in Regierungsverantwortung, in dem viele Projekte auf den Weg gebracht wurden, normal, dass es auch Ernüchterung gibt. Wenn die Unternehmenssteuerreform, die Gesundheitsreform, aber auch die Familienpolitik wirklich gegriffen haben, werden die Umfragewerte wieder steigen.

GA: Apropos Familienpolitik: Da läuft vieles nach sozialdemokratischem Muster...

Dieckmann: Ja, da machen wir wirkliche Fortschritte. Elterngeld, Investitionen in die Infrastruktur, Veränderung des Bewusstseins der Arbeitgeber, das sind Verdienste der SPD. Und es ist gut, dass die christdemokratische Familienministerin Ursula von der Leyen, unterstützt von Frau Merkel, das alles auch in ihren eigenen Reihen durchsetzt.

GA: Die SPD entdeckt wieder die Mittelschichten. Bei Schröder war dies die "neue Mitte". Entscheidet sich dort die Wahlschlacht 2009?

Dieckmann: Die SPD wird auch in Zukunft die Schutzmacht der so genannten kleinen Leute sein. Wir waren immer die Partei, die Chancengleichheit für alle Menschen will - und deshalb ist für mich der Gedanke an die Mittelschichten nicht so neu.

Dass Kurt Beck ihn jetzt wieder betont, halte ich für richtig und wichtig. Das sind schließlich Schichten, die von sozialdemokratischer Politik stark profitiert haben.

GA: Stehen diese Schichten in der aktuellem Situation nicht eher in der Gefahr zu verlieren?

Dieckmann: Ja, in der Mittelschicht sehen viele die Gefahr, dass sie nicht weiter nach oben aufsteigen, wo es einem Drittel der Gesellschaft, das gut ausbildet ist und gut verdient, gut geht, sondern in das untere Drittel abrutschen könnten, das mit größeren Problemen zu kämpfen hat.

Deshalb muss sich die SPD für beide Gruppen engagieren: Die Schwächeren in der Gesellschaft, die sich nur schwer selbst helfen können und die Mittelschichten, die nicht zu Verlierern der Globalisierung werden dürfen.

GA: Bleibt die große Koalition eine Vier-Jahres-Episode oder gibt es für sie Aufgaben, die darüber hinausreichen?

Dieckmann: Diese Koalition ist gebildet für vier Jahre, dann entscheiden die Wähler über ihre Fortsetzung oder über andere Konstellationen.

GA: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die SPD breche Wahlversprechen?

Dieckmann: Jede Koalition erfordert Kompromisse. Tatsache ist, dass im Koalitionsvertrag viele sozialdemokratische Ziele, die wir im Wahlprogramm formuliert haben, verankert sind.

GA: Ist das einer der Gründe, warum Merkel nach Ihrer Ansicht nur Moderatorin sein kann?

Dieckmann: Ich glaube, dass Angela Merkel auch vom Typ her eher dazu neigt.

GA: Jahrelang politischer Gegner, jetzt Bündnispartner, wie hat sich Ihr Bild von der Union verändert?

Dieckmann: Auf der Bundesebene haben die großen Parteien ihre Positionen sehr scharf gegeneinander vertreten, trotzdem ist es gut, dass in vielen Bereichen Kompromisse möglich sind. Auf der kommunalen Ebene, von der ich komme, sind die Gegensätze zwischen den demokratischen Parteien deutlich geringer, als oft vermutet wird.

GA: Franz Müntefering beklagt das fehlende Wir-Gefühl in der Regierung. Braucht man so etwas überhaupt?

Dieckmann: Ja, um erfolgreiche Regierungsarbeit machen zu können, braucht man ein Wir-Gefühl. Aber jede Partei braucht auch Raum, sich selbst zu profilieren.

GA: Entscheidend für die Reputation der Koalition wird der wirtschaftspolitische Erfolg sein. Welche Grenzen gibt es bei der Unternehmenssteuerreform für eine weitere Entlastung der Betriebe?

Dieckmann: Es ist nicht umstritten, dass wir die Unternehmenssteuerreform brauchen. Das Ziel ist, sie weitgehend aufkommensneutral zu finanzieren. Die Steuersätze sollen gesenkt werden, gleichzeitig aber auch die Einnahmebasis verbreitert. In den ersten Jahren wird der Staat dabei trotzdem Einnahmeausfälle haben. Jetzt muss gerechnet und diskutiert werden, wie viel wir uns leisten können. Entschieden wird dann im Dezember.

GA: Ist es richtig, in jedem Fall an der Mehrwertsteuererhöhung festzuhalten oder ist der Negativeffekt zu groß?

Dieckmann: Obwohl die Steuereinnahmen sich wieder verbessern, ist unser Staat auf allen Ebenen noch immer hoch defizitär. Deshalb werden die Einnahmen aus der Mehrwertsteuerreform dringend gebraucht. Ein Teil wird zur Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung verwendet und fließt zurück.

Aber es ist auch so, dass die Menschen in Deutschland einen Staat erwarten, der aktiv und handlungsfähig ist. Dafür braucht man auch Geld. In Skandinavien sieht man, dass sich Staaten modernisieren können und der Grundgedanke des vorsorgenden Sozialstaats dennoch erhalten bleibt.

GA: Das heißt: Der Gedanke, dass der Staat Aufgaben aufgeben sollte, ist nicht Ihrer?

Dieckmann: Im vielen Bereichen nicht. Die Menschen erwarten zu Recht, dass sich der Staat in der Bildung und der Forschung engagiert, dass die Infrastruktur weiter funktioniert. Auch im Gesundheitswesen halte ich eine stärkere Finanzierung aus Steuermitteln für gerechter. Aber es ist sicher auch unstrittig, dass sich der Staat aus manchen Feldern verabschieden kann.

GA: Ist Hartz IV eigentlich jemals eine Erfolgsgeschichte gewesen, allein wenn man an die Kosten denkt?

Dieckmann: Dass es bei einer solch großen Reform auch Umstellungsprobleme gibt, ist kaum zu vermeiden. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war unbedingt notwendig, weil es ungerecht war, arbeitsfähige Menschen auf das Abstellgleis der Sozialhilfe zu schieben. Inzwischen zeigen die Reformen ja auch Wirkung.

GA: Nochmal zu den Finanzen. Die Bundesagentur macht Plus. Geld zurück an den Steuerzahler oder beim Staat belassen?

Dieckmann: In den letzten Jahren hat die Bundesagentur rote Zahlen geschrieben und das fehlende Geld wurde schuldenfinanziert aus der Staatskasse genommen. Deshalb halte ich es für sinnvoll, eventuelle Überschüsse jetzt auch wieder zur Konsolidierung der Staatskasse einzusetzen. Auch ein Sonderprogramm, mit dem Ausbildungsplätze für Jugendliche finanziert werden, halte ich für wünschenswert.

GA: Steht da ein dicker Koalitionskonflikt bevor? Der CDU-Generalsekretär sagt das Gegenteil dessen, was Sie eben gesagt haben.

Dieckmann: Die Kanzlerin sieht das eher so wie wir.

GA: Wir dürfen die Zukunft nicht verbrauchen, sagte die Kanzlerin. Gefällt Ihnen dieses neue Motto?

Dieckmann: Ich würde das nicht so ausdrücken, aber ich glaube mit dem, was sie gemeint hat, hat sie Recht. Dieses Land hat sehr gute Chancen, hat eine sehr gute Grundlage, hier leben viele gut ausgebildete Menschen.

Es geht uns auch nach wie vor besser als den meisten Menschen auf der Welt. Wir müssen aber jetzt die Weichen stellen, um für unsere Kinder eine gute Zukunft zu schaffen.

GA: Ist es da ein Beinbruch, dass die Gesundheitsreform erst mal verschoben ist?

Dieckmann: Nein, aber hätten wir das früher gewusst, hätten wir vor der Sommerpause nicht unter so großem Zeitdruck Eckpunkte festlegen müssen und mehr Zeit für die Beratungen in den Parteigremien gehabt. Jetzt müssen die Eckpunkte ausgefüllt werden.

GA: Was ist eigentlich im Zeitalter der Globalisierung sozialdemokratische Identität?

Dieckmann: Zur sozialdemokratischen Identität gehört, den Menschen auch in einer globalisierten Welt die Sicherheit zu geben, dass es sozial gerecht zugeht, dass alle an einem guten Bildungssystem teilnehmen, dass die Solidarität zwischen Menschen und Generationen nicht verloren geht.

Es gehört auch dazu, Sicherheit im Staat zu erhalten und trotzdem ein weltoffenes und tolerantes Land miteinander zu gestalten. Sozialdemokratische Identität ist nicht zuletzt auch Friedenspolitik. GA: Ist Ihnen bewusst, dass diese Antwort präzise von Herr Rüttgers, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU, stammen könnte?

Dieckmann: Was Herr Rüttgers an praktischer Politik durchsetzt, hat mit sozialdemokratischer Politik überhaupt nichts zu tun.

GA: Stichwort Friedenspolitik. Ist auch Ihr Eindruck, dass die Bundesregierung noch keinen klaren Kriterienkatalog hat, wo auf der Welt die Bundeswehr eingreifen sollte?

Dieckmann: Diesen Kriterienkatalog kann es nicht geben. Der Libanonkonflikt ist für uns alle überraschend ausgebrochen. Wer hätte denn gedacht, dass Israel auf die Entführung einiger Soldaten so massiv reagiert? Aber die Bundesregierung, vor allem der Außenminister, spielt hier eine ganz hervorragende Rolle.

Ich finde es auch positiv, dass Europa diesmal eine wichtige Rolle spielt. Es ist das erste Mal in einem solchen Konflikt gelungen, den amerikanischen Einfluss zu verringern und den europäischen zu stärken. Ich halte unser Engagement im Nahen Osten für richtig, weil wir in einer Verpflichtung gegenüber Israel stehen und ein großes Interesse an Frieden im Nahen Osten haben.

Wir brauchen einen Palästinenserstaat, wir brauchen Sicherheit für Israel. Aber wir brauchen auch Hilfe für den Libanon. Der Ansatz des Außenministers, Syrien mit einzubinden, ist richtig. Aber mit einem Kriterienkatalog ist da nichts auszurichten.

GA: Eine Frage, natürlich, zu Bonn/Berlin. Schließen Sie aus, dass es in absehbarer Zeit in Ihrer Partei eine Riesenmehrheit dafür gibt, alle Bundesministerien nach Berlin zu legen?

Dieckmann: Ja, das schließe ich aus. Es gibt dazu eindeutige Aussagen, übrigens von den Spitzen von SPD und CDU, eindeutige Aussagen auch im Koalitionsvertrag.

GA: Der Bundesvorsitzende der SPD hat das erste Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur. Richtig?

Dieckmann: Ja. Er kann übrigens auch Wahlen gewinnen

GA: Die stellvertretende Bundesvorsitzende hat das erste Zugriffsrecht auf die Gegenkandidatur zu Jürgen Rüttgers hier in NRW?

Dieckmann: Nein, ich werde nicht gegen Jürgen Rüttgers antreten.

Zur Person

Bärbel Dieckmann, geboren 1949 in Leverkusen, studierte Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften und war vor ihrer politischen Arbeit als Studiendirektorin tätig.

Seit 1994 ist sie Bonner Oberbürgermeisterin. Seit 2005 zudem Stellvertretende Vorsitzende der SPD. Dem SPD-Präsidium gehört sie seit drei Jahren an. Die ist verheiratet und hat vier Kinder.

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