Zehn Jahre nach dem Nagelbombenattentat Die Narben der Keupstraße

KÖLN · Bei der Explosion in Köln-Mülheim wurden 22 Menschen verletzt. Mit den Folgen kämpfen manche Anwohner immer noch.

 Tatort Keupstraße: Ein Polizist bei der Spurensicherung am 9. Juni 2004.

Tatort Keupstraße: Ein Polizist bei der Spurensicherung am 9. Juni 2004.

Foto: dpa

Wer genau hinschaut, sieht auch heute noch die Narben. Zum Beispiel im Haus Keupstraße 56. "Da sind die Nägel eingeschlagen", sagt Ali Demir und deutet auf schwarze Flecken an der Fassade. Ein paar Meter weiter steht Metin Ilbay vor seinem Juweliergeschäft. "Zieh doch mal Deine Hose ein bisschen hoch, dann können wir Deine Narbe sehen", bittet Demir. Ilbay aber möchte nicht. "Da gibt es nicht mehr viel zu sehen", sagt der 58-Jährige. Manche Narben sind inzwischen gut verheilt. Doch dann beginnt er zu erzählen, wie er den 9. Juni 2004 erlebt hat.

Auf einem Hocker habe er vor seinem Geschäft gesessen. Er habe gesehen, wie ein ihm Unbekannter ein Fahrrad schob und vor dem Friseurladen schräg gegenüber abstellte. Einige Minuten später, kurz vor 16 Uhr, explodierte die Bombe, die in einem Koffer auf dem Gepäckträger des Fahrrades deponiert war - offenbar ferngezündet aus einer Hauseinfahrt, aller Voraussicht nach von Uwe Böhnhardt oder Uwe Mundlos aus der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).

Hunderte Nägel flogen durch die Luft, einer davon in Ilbays rechtes Bein, ein anderer in seine Schulter, wieder andere ließen Fensterscheiben zersplittern, beschädigten Autos und verletzten 21 weitere Menschen, vier davon schwer. Der Anschlag hätte noch viel schlimmere Folgen haben können, wenn nicht zu der Zeit vor dem Friseurgeschäft zwei Lastwagen geparkt hätten. "Die haben die Wucht der Detonation aufgefangen, sonst hätte es bestimmt Tote gegeben", sagt Demir und denkt an die Kinder, die um diese Zeit vom nahen Kindergarten abgeholt wurden und auf der anderen Straßenseite gingen.

Ali Demir hatte auch Glück. Der Steuerberater und damalige Vorsitzende der Interessengemeinschaft von Bürgern und Geschäftsleuten in der Keupstraße war in seinem Büro ein paar Häuser neben dem Friseur, sortierte Unterlagen und las Zeitungen. Als die Bombe explodierte, ging er zu Boden, duckte sich und verschränkte die Arme über dem Kopf, so wie er es beim Militär 30 Jahre früher gelernt hatte.

"Als ich den Kopf wieder hob, stand ein Mann vor meinem Fenster, der eine Pistole trug. Ich dachte, das sei ein Polizist, sprach ihn an und wollte wissen, was passiert ist", erzählt der 63-Jährige. Der Mann habe nur gesagt: "Schauen Sie doch auf den Boden." Dort lagen Metall- und Glassplitter. Während dieses Gesprächs habe sich der Mann per Zeichen und Mimik mit einem anderen Mann auf der Straßenseite gegenüber verständigt.

Die Frage, wer diese beiden Männer waren, treibt Demir seither um. Hätten sie zur Aufklärung des Nagelbombenanschlags beitragen können? Wussten Sie womöglich, was die Täter vorhatten? Woher kamen sie? Waren es Geheimdienst-Mitarbeiter? "Ich hatte den Eindruck, dass die Männer den Anschlag verhindern wollten, es ihnen aber nicht gelang", sagt Demir. Für seine Beobachtungen habe sich die Ermittlungskommission der Kölner Polizei seinerzeit aber nicht interessiert.

Immer noch will er herausfinden, ob man nicht früher wissen konnte, dass es sich um ein fremdenfeindliches Motiv gehandelt hat. Ihn regt weiterhin auf, dass Bundesinnenminister Otto Schily schon am Tag nach dem Attentat sagte, die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden deuteten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu hin. "Wie hat Schily so schnell Informationen bekommen?", fragt Demir.

Fortan standen die Menschen in der Keupstraße selbst unter Verdacht, dass einer oder mehrere von ihnen für den Anschlag verantwortlich sein könnten. "Die Polizei war ständig hier, geschäftlich war die Straße tot", sagt Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs (SPD). Von außen sei kaum noch jemand gekommen. Außerdem zogen viele alteingesessene Deutsche weg. "Die Bombe hat das Vertrauen zwischen Migranten und deutschen Anwohnern zerstört", sagt Demir.

Der Vertrauensverlust hatte noch eine Konsequenz: Die Idee eines internationalen Einkaufszentrums mit kulturellen Einrichtungen als wirtschaftliches und soziales Zentrum auf einer Industriebrache in der Nähe musste begraben werden. "Es gab keine Genehmigung von der Stadt", sagt Demir. Auch das Vertrauen zwischen den Volksgruppen innerhalb der Straße hätte gelitten. So brachen Konflikte wieder auf, etwa zwischen Türken und Kurden. Obwohl alle in der Keupstraße gewusst hätten, dass der Anschlag nicht von den Bewohnern kommen konnte. Eine Bombe sei dort nie zuvor gezündet worden. Bei allen Auseinandersetzungen, "diese Tatart gab es bei uns nicht".

Inzwischen haben sich die Probleme verlagert. An der Ecke Holweider Straße hat sich ein Arbeiterstrich entwickelt, auf dem sich vor allem Bulgaren anbieten. "Wer nicht abgeholt wird, hängt den ganzen Tag dort in der Kneipe rum", weiß der Bezirksbürgermeister. Diese Menschen würden zudem oft in unwürdigen Verhältnissen untergebracht. Zudem habe die Bettelei zugenommen. Zugezogene Roma würden mit Skepsis betrachtet und für Delikte verantwortlich gemacht, berichtet Serap Güler. Die türkeistämmige CDU-Politikerin hat ihren Landtagswahlkreis in Köln-Mülheim und ist in Düsseldorf integrationspolitische Sprecherin der Fraktion.

Für die Zukunft erhoffen sich Fuchs und Güler, dass das Kultur-fest der Straße einen Schub gibt. "Wir müssen die Marke Keupstraße als Geschäftsstraße mit türkischem Flair pflegen", sagt Fuchs. Güler setzt hinzu: "Vielleicht können wir die Keupstraße ja als Little Istanbul auch als Sehenswürdigkeit innerhalb Kölns deklarieren." So wie es in US-Städten die "China Towns" seien. Schon heute sei die Atmosphäre gerade im Sommer wunderbar. "Da kommen Menschen aus Belgien und den Niederlanden, kaufen ein und bleiben bis in die Nacht in den Restaurants. Auch das hilft beim Heilen der Wunden."

Dass auch das NSU-Verfahren dazu beiträgt, glaubt Metin Ilbay, der beim Anschlag verletzte Juwelier, nicht. In München tritt er zwar als Nebenkläger auf, doch er sagt auch: "Ich habe keine Hoffnung, dass der Prozess Gerechtigkeit bringen wird. Die sollen mir mal erklären, warum erst nach Jahren klar wurde, dass der Anschlag einen fremdenfeindlichen Hintergrund hatte." Zutrauen zum deutschen Rechtsstaat sieht anders aus. Diese Narbe wird wohl ewig bleiben.

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