Pegida Kein Fall für schnelle Antworten

BERLIN · Neulich in Dresden. Kurz vor Heiligabend. Pegida lässt Weihnachtslieder singen. Weil das zum christlichen Abendland gehört. "O du fröhliche" aus 18.000 Kehlen. Nach einer Strophe hapert es mit der Textsicherheit. Dann eine Rede. Es geht um den Bundespräsidenten.

"Der Pfaffe Gauck" heißt er in Pegida-Deutsch. Thüringens SPD-Politiker Christoph Matschie? "Ein Pfaffensohn". Dann wieder Liedgut. "Welt ging verloren, Christ ist geboren, freue dich o Christenheit".

Oder das. Am vergangenen Montag. Wieder Pegida. Diesmal kommen 25.000. Ein Rentner-Ehepaar steht etwas abseits. Ein anderes Paar stellt sich dazu. Es entspinnt sich folgender Dialog: "Schön, dass ihr da seid. Trotz der Anreise. Ist doch weit weg die Niederlausitz." "Wir tun's doch für unsere Kinder und Enkel." "Ja, sollen als Deutsche nicht in der Minderheit sein, wenn sie mal groß sind. Wie sieht's denn aus in der Niederlausitz?" "Ach, hör auf! Afrikaner, wo Du hinsiehst. Junge Leute! Was machen die hier?" Der Mann klingt ehrlich besorgt. Nichts an ihm wirkt radikal. In ganz Sachsen gibt es Ende 2012 rund 2,2 Prozent Ausländer. Die meisten in den Großstädten. Was hat er also gesehen?

Oder das. Dieselbe Veranstaltung am vergangenen Montag. Der Redner sagt, Pegida habe nichts gegen den Islam. Jeder kenne doch "herzliche, gut integrierte Muslime". Die würden auch unter den Salafisten leiden, weil sie ins falsche Licht gerückt werden. Also sollen die doch auch kommen zu den Pegida-Demos. Wer den Blick ins Publikum lenkt, kann das Plakat nicht übersehen: "Islam = Karzinom".

"In Dresden haben 28.000 AfD und NPD gewählt"

Ist das zu begreifen? Oder ist unsere deutsche Gegenwart so zersplittert, so ungleichzeitig, in so viele Zeitscherben zersprungen, dass sich da nichts mehr zu einer gemeinsamen Erfahrungswelt fügen will? Die Demonstranten fühlen sich nicht verstanden. Kann man das verstehen?

Der Historiker Götz Aly ist schnell fertig mit Pegida: "Freiheit, selbstherrlicher Lokaldünkel und Fremdenangst gehören in Dresden schon lange zusammen", schreibt er. Er verweist darauf, dass noch das Gesetz von 1838 über die Rechtsstellung der Juden in Sachsen den Juden die bürgerlichen Ehrenrechte versagte. In Dresden seien "höchstens" vier jüdische Kaufleute erlaubt gewesen. Als sie um Erleichterungen der Restriktionen baten, sei ihnen "im Pegida-Ton", wie Aly genüsslich anmerkt, beschieden worden: "Wir wollen nicht!"

Damit endet der Beitrag Alys. Immerhin hat sich hier ein deutscher Intellektueller zur Sache eingelassen. Die meisten Kollegen sitzen schockstarr auf der Couch. Ist man sich zu fein, sich mit dem "Mob" abzugeben? Aber eines ist klar: Wenn das die angemessene Haltung sein soll, dann haben Versuche, ins Gespräch zu kommen, keine Chance. Dann braucht man das praktischerweise auch gar nicht. Denen ist nicht zu helfen, sagt Aly indirekt. Ende der Debatte.

Fremdeln mit der parlamentarischen Demokratie

Das muss wohlgemerkt auch gar nicht falsch sein. Der Meinungsforscher Manfred Güllner kann sich richtig in Rage reden, wenn es um Pegida geht. Ihn stört, dass oft unterstellt werde, hier entstehe eine Protestbewegung aus der Mitte der Gesellschaft. Er nennt das "ein Klischee, ein abenteuerliches Konstrukt". Wenn das stimmte, müssten doch überall in Deutschland Pegidas funktionieren. Tatsächlich aber sei nur in Dresden ein Massenandrang zu erkennen. Und dafür hat er eine Erklärung: "Bei den vergangenen Landtagswahlen haben in Dresden 28 000 Menschen AfD und NPD gewählt. Dieses Potenzial ist einfach da und Pegida in Dresden erreicht es eben."

Dort fordern die Organisatoren des Protestes eine qualifizierte Zuwanderung, eine Pflicht zur Integration, mehr Personal für die Polizei, ein Einreiseverbot für Dschihadisten. Außerdem mehr direkte Demokratie. Das klingt jedenfalls nicht extrem.

Güllner wird denn auch widerspochen. Da taucht immer wieder eine Argumentationsfigur auf: Die Union vernachlässige das rechtskonservative Milieu. Diese heimatlos gewordenen Bürgerlichen suchten sich nun neue Orientierungen. Das klingt auch beim Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt an, wenn er sagt, dass sich in der Union "ein eher nach rechts tendierendes, durchaus relevantes Segment der Öffentlichkeit" nicht mehr wiederfinde. Heimatlose Unionsanhänger also - sind das die Pegida-Demonstranten?

Eher nicht. Manfred Güllner befragte Wähler, die im Jahre 2013 bei den Bundestagswahlen für die CDU votierten, derzeit aber nicht mehr dort ihr Kreuzchen machen wollen. Das Ergebnis erstaunt: Die Abwanderer stufen sich mit einem Wert von 5,2 nicht rechts, sondern eher links zwischen der durchschnittlichen politischen Verortung aller Wahlberechtigten (4,8) und der Verortung der CDU-Stammwähler (5,6) ein.

Also wird man weitersuchen müssen. Vielleicht hilft da Gregor Gysi. Der Vordenker der Linkspartei hält Pegida tatsächlich für ein Ost-Phänomen. Die DDR sei "eine geschlossene Gesellschaft" gewesen, sagt er, "übersichtlich, abgekapselt". Kein Kontakt zu fremden Kulturen. Die vietnamesischen Vertragsarbeiter seien kaserniert worden. Die paar Ausländer fielen nie auf. "Multikulti", sagt Gysi, "kannte man in der DDR nur aus dem Westfernsehen." Jedenfalls, wer es sehen konnte. Dresden gehörte zum "Tal der Ahnungslosen", die Elbregion war von den Westsendern abgeschnitten. Berichte über arabische Intensivtäter in Neukölln oder Salafisten im Ruhrgebiet müssten den Dresdner also "wie Horrorberichte" vorkommen. Erst recht der IS-Terror oder nun die Anschläge in Paris.

Endlich eine Erklärung, die sich verstehen lässt. Die sich weiterspinnen lässt. Die ostdeutsche Gesellschaft sei "durcheinandergewirbelt worden", sagt Werner Patzelt, Politologe der Universität Dresden, sie "will jetzt zur Ruhe kommen". Das ist menschlich. Aber jetzt bastelt die Politik schon längst an den nächsten - notwendigen - Umwälzungen: Europäische Integration, Aufgabe nationaler Kompetenzen. Aus dem windstillen Tal der Ahnungslosen in den tobenden Sturm der Globalisierung. Das ist viel für ein Menschenleben. Vielleicht zu viel.

Aber kann man sein Schicksal als Gesellschaft nicht selbst bestimmen? Durch Wahlen kann man den Zeitläuften in die Speichen greifen. Das ist der nächste Punkt: Diese Erfahrung haben die Sachsen nicht gemacht. Wer dort wohnt und alt geworden ist, hat Nazideutschland und die DDR erlebt. Dann die Wende. Seither regiert dort mit wechselnden, unbedeutenden Partnern die CDU. Das heißt: Per Wahlzettel hat es in Sachsen seit Menschengedenken keinen wirklichen Wechsel mehr gegeben. Die große Umwälzung war die Wende. Das große Befreiungserlebnis. Das aber wurde im Bewusstsein der Bürger auf der Straße erkämpft, nicht in der Wahlkabine. "Wir sind das Volk."

Dieses Urerlebnis schwingt mit in der zornigen Neubeschwörung des Slogans auf den Pegida-Demonstrationen. Dagegen fremdelt man noch immer mit der parlamentarischen Demokratie. Das sagt und schreibt sich leicht. Eigentlich ein ungeheuerlicher Befund. Aber ihm ist schwer auszuweichen. Bei den Landtagswahlen im August 2014 gingen in Sachsen nur noch 49,2 Prozent der Bürger zur Wahl. Kein Wunder. Einerseits haben Erfahrungen wie Schulschließungen oder die Ausdünnung der Polizeipräsenz für Frust gesorgt, andererseits fehlt die Erfahrung, den Wechsel wählen zu können. Da ziehen schon eher die einfachen Parolen. Seit zehn Jahren war die NPD im sächsischen Landtag - bis 2014. In vielen Kommunen ist sie vertreten. Viele im Westen verpönte Parolen sind längst enttabuisiert. "Das System ist das Problem" war eines der größten Transparente auf der jüngsten Pegida-Demo in Dresden.

Wer so denkt, will nicht mehr reden. Wer so denkt, glaubt nicht mehr daran, "dass die da oben" überhaupt ein Interesse haben, ins Gespräch zu kommen. Dabei ist das ein grandioses Missverständnis. Politiker laufen ihren Wählern geradezu hinterher. Bis zum Fremdschämen peinlich können Versuche der Abgeordneten werden, ihren Wählern zu begegnen. Im Urlaub am Strand, im Schwimmbad, auf der Straße. Nur kommt kein Dialog zustande. Die Lebenswelten treffen sich nicht mehr.

Ist das wirklich nur die Schuld der Politik? Nur eine Zahl: Drei Viertel der Deutschen haben in den vergangenen Monaten keine einzige Parlamentsdebatte im Radio oder Fernsehen verfolgt, sagt eine Bertelsmann-Studie. Wer kennt schon den Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises? Sprachlosigkeit.

Die zu überwinden, dafür ist doch eigentlich die Presse da. Noch mal zur Demo nach Dresden. Anna ist 25, Psychologie-Studentin aus Leipzig. Rucksack, sportliche Brille, kecke Jacke. Eigentlich würde man sie eher auf der Gegendemo der Antifa erwarten. Aber sie weiß, warum sie da ist: "Ich bin dagegen, dass türkische Frauen zwangsverheiratet werden, dass sie in den Familien wie der letzte Dreck behandelt werden." Und dann: "Aber darüber schreibt ihr ja nie!" Da ist er, wenn auch in höflicher Form, der andere große Pegida-Schlachtruf: "Lügenpresse." Stimmt das? Nein, stimmt nicht.

Auch Anna weiß davon doch nur über die Presse. Aber die ganze Wahrheit ist auch das nicht. Journalisten schreiben über gesellschaftliche Entwicklungen, aber sie sind auch ein Teil davon. Zeitung machen - das ist ein aufklärerisches Projekt. Wurden da bestimmte Phänomene ausgeblendet, lieber weniger deutlich beschrieben, um radikalen Furor nicht zu wecken? Ist das der blinde Fleck des deutschen Journalismus? Und entstand auch dadurch das Gefühl, dass die Gefühlswelten mancher Bürger einfach nicht mehr vorkommen in den offiziellen Berichten zur Lage der Nation? Die Angst vor Kriminalität, vor geschlossenen Parallelgesellschaften, vor zu viel Neuem und Fremdem? Eine Art Appeasement-Politik aus Angst vor nationalistischem Ungeist? Die Debatte muss geführt werden.

Geißler plädiert für hartes Vorgehen gegen Hassprediger

Der Unionspolitiker Heiner Geißler geht solchen Debatten nicht aus dem Weg. "Es kann überhaupt nicht bestritten werden, dass es Gründe gibt, warum die Leute Angst haben", sagt er. Die Politik müsse ein klares Zeichen geben, "dass sie das tut, was sie tun kann". Es dürfe nicht sein, "dass Gerichte bei uns in Deutschland anfangen und islamisches Recht übernehmen, Teile der Scharia bei ihren Urteilen in Familiengerichtsstreitigkeiten oder Ehestreitigkeiten". Darüber müsse öffentlich diskutiert werden. Geißler tritt auch für ein Burkaverbot und ein hartes Vorgehen gegen Hassprediger ein. Die Infragestellung der Pegida-Bewegung nennt er für "grundsätzlich falsch".

Dass der Staat sich als Handelnder zeige und Rechtsstaatlichkeit durchsetze, das könne ein Anfang des Dialogs sein. Sagt Geißler. Den aber muss man wollen. Pegida geht schweigend durch Dresden. Keine Interviews, kein Austausch von Meinungen. "Wir sind das Volk". Aber die anderen sind es auch. Und sie sind mehr.

Muslime in Deutschland - Fakten und Stimmungen

In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime - das sind etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Der Migrantenanteil insgesamt liegt laut Angaben des statistischen Bundesamtes bei 13 Prozent. Das entspricht interessanterweise nicht der Gefühlslage der Deutschen. Im Schnitt glauben sie nämlich, dass jeder vierte hier lebende Bürger nicht in Deutschland geboren wurde. 16 Prozent glauben sogar, der Anteil läge bei 30 Prozent, fand das Marktforschungsinstitut Ipsos-Mori heraus. Drei Viertel der bei uns lebenden Muslime gehören zur Glaubensrichtung der Sunniten, 13 Prozent sind Aleviten und sieben Prozent Schiiten. Etwa zwei Drittel der hier lebenden Muslime haben türkische Wurzeln, 13 Prozent kommen aus Südosteuropa, acht Prozent kommen aus dem Nahen Osten, sieben aus Nordafrika.

Es gibt ein augenfälliges Missverhältnis: Weitaus die meisten Muslime fühlen sich den Grundwerten der westlichen Kultur verbunden, dennoch fühlen sich viele Deutsche bedroht. Die jüngste Ausgabe des "Bertelsmann-Religionsmonitors", einer internationalen regelmäßig durchgeführten Studie, kommt zu dem Ergebnis, dass auch 90 Prozent der hochreligiösen Muslime in Deutschland die Demokratie für eine gute Regierungsform halten. Neun von zehn Befragten haben in ihrer Freizeit Kontakt zu Nicht-Muslimen. Jeder zweite hat mindestens genauso viele Kontakte außerhalb der Religionsgemeinschaft wie mit Muslimen. 63 Prozent derjenigen Befragten, die sich als ziemlich oder sehr religiös bezeichnen, überdenken nach eigenen Angaben regelmäßig ihre religiöse Einstellung. Einer Hochzeit homosexueller Paare stimmen rund 60 Prozent von ihnen zu. Innerhalb der hochreligiösen muslimischen Gruppe sind es noch 40 Prozent, in der Türkei sind es in der entsprechenden Gruppe nur zwölf Prozent.

Die Bertelsmann-Studie kommt aber auch zu dem Ergebnis, dass 57 Prozent der befragten Nicht-Muslime den Islam als Bedrohung empfinden - im Jahr 2012 waren es 52 Prozent. 61 Prozent gaben an, der Islam passe nicht in die westliche Welt. Die Angst vor dem Islam ist dort am größten, wo die wenigsten von ihnen wohnen: In Thüringen und Sachsen sehen sich 70 Prozent der Befragten vom Islam bedroht, in NRW - wo die meisten Muslime leben - nur 39 Prozent.

Die Bertelsmann-Zahlen sind nicht unumstritten. Eine aktuelle Befragung von Forsa kommt zu dem Ergebnis, dass nur 18 Prozent der befragten Bundesbürger sagen, der Islam bereite ihnen Unbehagen. 79 Prozent verneinen dies. Nur zehn Prozent würden eine Partei wählen, die den Islam in Deutschland bekämpft. Zum Vergleich: In der Vergangenheit fanden analoge Fragen zu einer "Sarrazin-Partei" oder Horst-Schlemmer-Partei" zwischen 20 und 25 Prozent Zustimmung.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Vorgeschoben
Kommentar zu den Hinrichtungen in Indonesien Vorgeschoben
Zwischentöne
Kommenar zu den Debatten nach Paris und Verviers Zwischentöne