Flüchtlinge im Mittelmeer Der gefährliche Weg ins gelobte Land

EUROPA/AFRIKA · Die prekäre Situation an den europäischen Außengrenzen ist seit Jahren bekannt. Der Kontinent schottet sich ab, doch der Druck von außen wird nicht geringer. In der Hoffnung auf ein besseres Leben nehmen die Flüchtlinge fast jedes Risiko in Kauf.

Seit mehr als 20 Jahren sterben massenhaft Flüchtlinge im Mittelmeer. Während Fischer und Matrosen das Grauen aus unmittelbarer Nähe erleben, haben sich die meisten von uns an die Tragödien gewöhnt. Fernsehkameras gibt es auf dem offenen Meer nicht. Auch keine Mikrofone und kein Blitzlicht. Nur eine große, erschütternde Stille. Totenstille.

18 Schiffe, Frachter, Fischerboote, die Küstenwache, Finanzpolizei und Marine sind in der Nähe der Unglücksstelle, 30 Seemeilen vor der libyschen Küste. Der Himmel ist klar, der Seegang ruhig. Außer ein paar Schlieren von Dieselöl in den Wellen ist am Morgen nach der Tragödie nichts mehr zu sehen.

So hat es Vincenzo Bonomo einem italienischen Reporter erzählt. Bonomo, das heißt so viel wie guter Mann. Und wenn man so will, ist es gut, dass der Kapitän des sizilianischen Fischkutters "Francesco Padre" das Grauen mit eigenen Augen gesehen hat. Er hat Holzstücke im Wasser gesehen, Schwimmwesten, Schuhe, ein Heft und einen Rucksack. Und dann hat er noch den leblosen Jungen gesehen, vielleicht zehn Jahre alt, dessen Gesicht in einer Dieselöl-Pfütze schwamm.

Er wolle gar keinen Überlebenden mehr finden, das sei ohnehin aussichtslos, berichtet Bonomo erschüttert. Nur einen einzigen Körper, und diesem eine würdige Bestattung möglich machen. "Dann könnte ich vielleicht ein bisschen besser schlafen."

Wir schlafen alle ziemlich gut. Wir schlagen am Morgen die Zeitung auf oder schalten den Fernseher ein und dann beginnt dieses seltsame Spiel mit den Zahlen. Drei Tote im Mittelmeer, vielleicht eine Meldung? 70 Tote, ein kleineres Stück. Ab 300 handelt es sich um eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Aber selbst wenn wie im Oktober vor zwei Jahren 366 Menschen vor der Insel Lampedusa ertrinken, der Papst daraufhin in einer viel beachteten Reise die Insel besucht und die "Globalisierung der Gleichgültigkeit" anprangert, Europa dann ein paar Tage irritiert ist und verspricht, jetzt wirklich aktiv zu werden, geht alles doch bald wieder seinen gewohnten Weg. Italien antwortete kurz nach der Katastrophe 2013 mit "Mare Nostrum", der bis dahin größten Rettungsaktion im Mittelmeer. Aber wie Bulgarien und Griechenland sah auch Italien sich mit dem Strom der Menschen überfordert und vom Rest Europas im Stich gelassen.

Früh gab es Kritik an der italienischen Flüchtlingspolitik, Mare Nostrum war für Rom eine Chance, wieder in einem guten Licht dazustehen. Kritiker werfen ein, dass es die europäische Politik sei, die Flüchtlinge auf die riskanten Routen aufs Meer zwingt. Denn selbst für Syrien-Flüchtlinge gibt es kaum legale Wege, Europa überhaupt zu erreichen. Es verbreitete sich zudem die Meinung, dass die Operation ein zusätzlicher Anreiz für Flüchtlinge sei, die Route über das Mittelmeer zu wagen und dass sie den Schleppern ihr Geschäft erleichtere.

Einige Monate später nahm in der breiten Öffentlichkeit kaum noch jemand Notiz von dem Sterben, das sich dort an Europas Grenzen abspielte. Bis zum Sommer 2014, in dem so viele Flüchtlinge wie nie zuvor starben. Im August tragen Marinesoldaten im Hafen von Augusta hölzerne Särge an Land und stapeln sie in Lkw. Unter den Toten sind viele Kinder, die hinter einem grünen Sichtschutz auf Deck eines Schiffs von den Beamten aufgebahrt werden.

Einer der Männer mit Mundschutz trägt einen weißen Kindersarg über die Reling. Er ist mit einem kleinen Engel verziert. Viele Familien waren an Bord des Flüchtlingsbootes, das auf offenem Meer kenterte. Die Menschen, die es geschafft haben, sind erschöpft, eine düstere Mischung aus Trauer und Freude. Der Geruch der Toten, die eineinhalb Tage lang auf See waren, ist unerträglich. Es ist kaum vorstellbar, wie auf den 25 bis 30 Meter langen Booten 300 bis 500 Menschen das offene Meer überqueren. Wer einen Blick in die Überreste dieser Seelenverkäufer wirft, kann erahnen, welche Tragödien sich auf ihnen zugetragen haben. Eng zusammengedrückt sitzen die Flüchtlinge im Bauch des Schiffes, oft direkt neben dem Motor. Viele sterben bereits an den Abgasen. 930 ist die höchste Zahl von Menschen, die Frontex auf einem Flüchtlingsboot bisher registriert hat. Mit einem einzigen Boot verdienen die Schlepper bis zu einer Million Euro.

Auch wenn die italienischen Behörden in diesen Tagen immer wieder Schlepper präsentierten, die versuchen, sich unter die Flüchtlinge zu mischen, handelt es sich meist um Handlanger - oft selbst Flüchtlinge, die sich damit die Kosten für die Überfahrt sparen. Die, die angekommen sind, haben eine Chance weiterzukommen. Viele wollen nach Deutschland oder Skandinavien, um das wieder aufzubauen, was sie in ihrer Heimat zurücklassen mussten.

Am vergangenen Wochenende hieß es erst, 700 Menschen seien bei dem Schiffsunglück vor der Küste Libyens ertrunken. Dann behauptete einer der 28 Überlebenden, es seien 950 Menschen auf dem Boot gewesen. 200 Frauen und 40 bis 50 Kinder. Ein neuer, trauriger Superlativ. Am Montag gar die Nachricht, auch vor Rhodos sei ein Flüchtlingsboot mit 200 Menschen auf Grund gelaufen. Im Internet findet man Bilder von Menschen, die sich an Planken festhalten, um nicht unterzugehen. Die Internationale Organisation für Migration meldet alleine am Montag drei Notrufe von Flüchtlingsbooten in Seenot. Das Massensterben vor unserer Haustüre ist alltäglich geworden. "Im Mittelmeer trägt sich ein Völkermord zu", hat Joseph Muscat, der Premierminister von Malta, gesagt. "Und wir alle laufen Gefahr, uns daran zu gewöhnen."

Wir sind persönlich nicht verantwortlich dafür, dass Armut, Kriege, Gewalt in Afrika und im Nahen Osten herrschen. Auch nicht dafür, dass Schlepper Hunderte von Menschen auf klapprige Fischkutter pferchen und sie dafür auch noch bezahlen lassen. Dass im vergangenen Jahr 170 000 Menschen so über das Mittelmeer nach Italien und damit in die EU kamen und 3500 von ihnen beim Versuch starben. Dieses Jahr sind es schon 1600 Tote. Eine Million Menschen warteten alleine in Libyen auf die Überfahrt, sagt der Staatsanwalt von Palermo, Maurizio Scaglia, der gegen die Schlepper ermittelt. Ist es verwerflich, dass wir auch angesichts dieser Zahlen gut schlafen? Wie sehr sind wir und die von uns gewählten Regierungen durch Passivität zu Komplizen des Massensterbens geworden sind?

Wir fürchten uns vor der unkontrollierten Einwanderung und schaffen es trotzdem nicht, sie zu kontrollieren. Die Hürden, die wir gegen die Flüchtlinge errichten, sind so hoch, dass auch die Risiken zu ihrer Überwindung größer werden. Das Problem ist, dass die Risikobereitschaft der Flüchtenden wohl immer noch größer sein wird, als die Hürden, die wir ihnen in den Weg stellen. Die riskante Überquerung des Mittelmeers ist für die meisten nur die letzte Etappe eines jahrelangen Leidenswegs. Nichts kann sie abhalten.

Nirgendwo sonst wird einem die Abschottung Europas und der Wille, sie zu überwinden, plastischer vor Augen geführt als in Melilla, das am Rande Afrikas europäisches Hoheitsgebiet mit einem meterhohen Hightech-Zaun verteidigt. Nirgends sonst empfindet man mehr Unbehagen Europäer zu sein, als in dieser kleinen spanischen Exklave am Rande Marokkos. Die Landroute über Melilla wählen vor allem Flüchtlinge aus Zentralafrika.

In den Wäldern die sich rund um Melilla erstrecken, träumen im Sommer 2014 Hunderte Afrikaner von Europa. Immer wieder versuchen Flüchtlinge, die engmaschige Barriere mit ihren messerscharfen Zähnen zu überwinden. Sie nehmen dafür tiefe und blutige Blessuren in Kauf. Der Preis ist die Eintrittskarte nach Europa. Von der spanischen Seite, berichten Grenzbeamte, beobachte man die Wälder und umgebenden Berge genau. Wärmebildkameras erlauben den Grenzern grob vorherzusagen, wann ein neuer Sturm der Flüchtlinge bevorsteht. Immer wenn sich die Bergspitzen auf ihren Monitoren in tiefes Rot verfärben, wissen sie, dass es bald los geht. Dann versucht ein Schwarm von Flüchtlingen mit aller Kraft den Zaun zu stürmen.

Diejenigen, die es auch nach mehrmaligen Versuchen nicht schaffen oder zu schwach sind, harren in den Wäldern aus. Von den sogenannten "Gettos" auf den Hügeln kann man Melilla in der Ferne gerade noch erahnen. In Behausungen aus Planen und Ästen, die immer wieder von Behörden und Einheimischen zerstört werden, leben sie in ständiger Furcht - ohne Lobby und Geld. Zudem sind sie der Gewalt von einheimischen Banden ausgesetzt, die ihnen den wenigen Besitz rauben. Die Kriminellen haben es vor allem auf Mobiltelefone abgesehen - die letzte Verbindung der Flüchtlinge zur Familie und zu Freunden.

Die tragischen Folgen der Fluchtbewegung über das Mittelmeer sind mindestens seit 20 Jahren bekannt. Mehr als 20 000 Menschen sind nach Schätzungen in diesen zwei Jahrzehnten ertrunken. 283 Flüchtlinge starben 1996 beim ersten größeren Unglück vor der Küste Siziliens, der Tragödie von Portopalo. Nach dem Untergang eines mit Menschen aus Afrika beladenen Seelenverkäufers fanden Fischer die Leichname der Ertrunkenen in ihren Netzen. "Außer dem Fisch hatten wir plötzlich eine Leiche im Netz", erzählte einer der Fischer dem italienischen Journalisten Giovanni Maria Bellu. "Der Körper eines dunkelhäutigen Mannes zwischen 25 und 30 Jahren, seine Haut von den Fischen angenagt, am Finger trug er einen Ring." Die Fischer warfen den Leichnam zurück ins Meer, aus Furcht vor Nachfragen der Behörden. Sechs Wochen lang fanden sie Flüchtlingsleichen in ihren Netzen, und warfen sie wieder zurück ins Wasser. "Der Ring am Finger hat mich an seine Familie, sein Leben denken lassen", berichtete der Fischer.

Augenzeugen der italienischen Behörden berichten, dass die Identität der Toten meist nur anhand von Dokumenten nachgewiesen werden könne, die die Flüchtlinge in Plastik eingeschweißt an ihren Körpern tragen. Bereits nach kurzer Zeit im Meer seien die Leichname anders nicht mehr identifizierbar. Neben Ausweispapieren, Urkunden und Diplomen finden die Beamten oft größere Mengen Bargeld.

Seit 2013 hat sich laut Frontex die Anzahl derer, die versuchen, über die zentralen Mittelmeerrouten von Nordafrika nach Europa zu kommen, von 40 000 auf mehr als 170 000 Flüchtlinge mehr als vervierfacht. Es sind vor allem die, die vor Chaos und Anarchie in Libyen und Syrien fliehen oder gezwungen sind, das Bürgerkriegsland als Transitland zu nutzen, weil ihnen eine sichere Routen über das Festland versperrt ist. Darunter sind Tausende, die als Hilfsarbeiter nach Libyen kamen und jetzt ohne Auskommen um ihr Leben fürchten.

Heute liegt ein junger, dunkelhäutiger Mann im Krankenhaus von Catania auf Sizilien. Er war am Sonntag gerettet und wegen einer Kopfverletzung mit dem Helikopter in das Krankenhaus geflogen worden. Dort befragte ihn die Polizei. Der namenlose, junge Mann, angeblich aus Bangladesch, von dem ein Foto mit nacktem Oberkörper auf einer Bahre in italienischen Zeitungen zirkuliert, berichtete davon, dass sich 950 Menschen auf dem untergegangenen Boot befunden hätten. Eng aneinander gepresst an Deck des Kutters und eingeschlossen im Bauch des Schiffes.

Als sich der zur Hilfe gerufene portugiesische Frachter King Jacob näherte, sei der Kutter gekippt. Die meisten der Körper liegen nun wohl in 400 Metern Tiefe. Eine Bergung wäre höchst aufwendig und nur mit Tauchrobotern möglich.

Das erzählen die Mitglieder von Küstenwache und Marine, die am Einsatz beteiligt waren. Von diesen Männern heißt es, sie hätten so viele Tragödien im Mittelmeer erlebt, dass ihnen die Leitlinien ihrer Einsätze egal seien, egal ob sie Mare Nostrum heißen oder Triton. "Sie retten Menschen", sagt ein Kenner der Vorgänge. "Egal, wie die Anweisungen sind."

Aus Griechenland dagegen berichten Hilfsorganisationen von völkerrechtswidrigen PushBacks. Das heißt, Flüchtlinge werden illegal auf See oder auf Land zurückgedrängt. Augenzeugen berichten, dass Boote der Küstenwache versuchen, sie mit ihrer Bugwelle in Richtung der türkischen Küste zu lenken. Dabei kam es in der Vergangenheit immer wieder zu schweren Unfällen mit Toten. Denn als Reaktion versuchen Flüchtlinge manchmal, ihr Boot zum Sinken zu bringen, damit die Küstenwache ihnen zu Hilfe kommen muss.

Der sizilianische Fischer Vito Margiotta war beim jüngsten Rettungsversuch im Mittelmeer dabei. Er war einer der ersten an der Unglücksstelle, wie er der Zeitung La Repubblica berichtete. "Ein Inferno, überall Teile. Wir fuhren sehr vorsichtig, um niemanden zu gefährden." Leider seien alle Körper, die er im Meer erspäht habe, schon leblos gewesen. Die Gesichter nach unten gekehrt, die Körper bereits vom Wasser aufgebläht. "Uns sind die Tränen gekommen", erzählt Margiotta. "Wir haben an diejenigen gedacht, die unten auf dem Grund liegen und für die alle Hilfe zu spät kam. Die Körper werden nie geborgen werden können."

Was bleibt, sind 24 schwarze Leichensäcke aus Plastik, die an Deck des Patrouillenschiffs "Bruno Gregoretti" der italienischen Küstenwache lagern. Männer der Küstenwache in weißen Overalls, Atemschutzmasken und Schutzbrillen tragen sie am Hafen von La Valetta auf Bahren von Bord. Zwei Matrosen mit Schirmmütze salutieren.

Es ist der unwirkliche Epilog der jüngsten Tragödie. Auch Daniele Caruana ist nach den Rettungsversuchen mit seinem Frachter "Conquest" in La Valetta auf Malta eingelaufen. Der Matrose hat mit seinem Smartphone eine Videoaufnahme vom Unglücksort im Meer gemacht. Ein Mann mit weißen Haaren ist zu sehen, im Wasser, leblos, mit ausgebreiteten Armen. Er hat sich seine Schuhe um den Bauch gebunden, vielleicht um Auftrieb zu bekommen, wer weiß. Auch die "Conquest" kam zu spät. Die Matrosen konnten nur noch bei der Bergung der Leichen helfen, die an der Oberfläche schwammen.

"Es waren viele Jugendliche darunter", berichtet Caruana einem Reporter. Er habe erst an Land erfahren, wie groß das Ausmaß der Tragödie sei. "Aber die Zahlen", sagt Caruana, "sind nicht besonders wichtig. Wir werden nie wissen, wie viele es wirklich waren."

Der Zaun. Foto-Vortrag und Diskussion mit den Autoren Benjamin Stöß und Dietmar Telser am 10. Juni, 18 Uhr, Funkhaus Deutsche Welle, Kurt-Schumacher-Str. 3, Bonn, Eintritt frei. Telefonische Anmeldung: 01379/886915 24-Stunden-Anmeldeservice (0,50? / Anruf aus d. dt. Festnetz; ggf. abweichende Preise aus dem Mobilfunknetz)

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