Kommentar Wahlkampf in den USA: Armes Amerika

An Amerika hat sich Europa oft aufgerichtet; materiell wie mental. Der unverwüstliche Geist des Aufbruchs, der feste Glaube an die eigene Einzigartigkeit, der in der "neuen" Welt herrschte, waren Triebfedern, die in der "alten" bewundert wurden. Perdu. Sechs Monate vor den Wahlen um das Weiße Haus ist ein tief verunsichertes Land zu besichtigen, das seinen Eliten und sich selbst nicht mehr über den Weg traut.

Präsident Barack Obama, vor vier Jahren von einer Welle messianischer Hoffnung ins Amt gespült, ist hart gelandet. Altlasten seiner maßlosen Vorgänger, eigene Zögerlichkeit und ein auf Krawall gebürsteter Kongress der Politik-Verhinderer machen den mächtigsten Staatsmann der Welt zur immer noch sympathischen, jedoch lahmen Ente.

Dass seine Wiederwahl im November trotzdem möglich ist, liegt an der ernüchternden Konkurrenz. Die Republikaner und ihr Wahlvolk sehnen sich nach dem furchtbaren Irrtum mit George W. Bush nach einem zweiten Ronald Reagan. Mangels Verfügbarkeit schicken sie mit Mitt Romney ihren allerkleinsten gemeinsamen Nenner gen Washington. Kein Charisma, keine zeitgemäßen Visionen, nicht mal überzeugende Rhetorik.

Ein Vertreter des Gestern, als Amerika von weißen, alten Männern dominiert wurden, die sich und ihr Land einfach nur großartig fanden. Ein Mann, der verkörpert, was vor allem Republikaner Amerika über 30 Jahre angetan haben: eine gewaltige Umverteilung des Wohlstands von unten nach oben und eine radikale Staatsenthaltung in der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Trotzdem ist Romney, der politisch schon so ziemlich für alles war und kurz darauf auch wieder dagegen, ein Kandidat mit Chancen. Wenn es ihm gelingt, Latinos und Frauen zu besänftigen. Beide Wählergruppen wurden im erschreckend niveaulosen Vorwahlkampf der Republikaner wie Sandsäcke behandelt.

Obama greift zu dem alten Gut-oder-Böse-Trick. Der Präsident will eine Richtungsentscheidung. So kann er verhindern, dass die Wahl eine Abstimmung über seine Bilanz wird. Die würde der erste schwarze "Captain America" wohl verlieren. Alterssicherung, Wohneigentum, Arbeitsplätze, Steuergerechtigkeit, Bildung, Staatsverschuldung - bei zentralen Themen gibt es kaum Fortschritt. Obama hat viele Wähler auch in der politisch unabhängigen Mitte enttäuscht.

Die große soziale Frage, vor der Amerika steht, löst der absehbar bitterböse Lagerwahlkampf nicht. Anstatt darüber zu verhandeln, wie das uramerikanische Glücksversprechen von der gesellschaftlichen Mobilität für alle in einer globalisierten Welt eingelöst werden kann, wird mit millionenschweren Schmutzkampagnen der politische Gegner vernichtet. Aufrichten an Amerika - das ist vorbei.

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