Kommentar Ruhrgebiet: Aufbau West, jetzt!

Jetzt wissen wir also, wer Schuld hat an der Misere des Ruhrgebiets, an der hohen Arbeitslosigkeit, den Zuwanderern, den klammen Kommunen: Das Ruhrgebiet selbst ist schuld!

So sieht es zumindest CDU-Bundestagspräsident Norbert Lammert. Seine These: Der Strukturwandel nach dem Zechensterben scheitert am Kirchturmdenken der Ruhr-Städte und an einem Mangel an Pioniergeist; Fördergelder versickern, weil das Revier sich nicht aufrafft, als Einheit aufzutreten. Wäre die Lage nur so einfach! Lammerts Worte sind ein pointierter Debattenbeitrag, mehr leider nicht.

Dabei ist die Frage spannender denn je: Warum schafft das Ruhrgebiet nicht endlich den Aufschwung? In wenigen Wochen jährt sich der Tag der Wiedervereinigung zum 25. Mal, und ein Blick in den Osten zeigt doch, wie weit Fördermilliarden tragen können. Dort sanierte Innenstädte, hier der Verfall, dort siedelt sich Porsche an, hier schließt Opel, dort steigen Zuzug und Geburtenrate, hier schrumpfen einst pulsierende Ruhr-Städte. Wer über die Schlaglochpisten durchs graue Reviers rumpelt, könnte glauben, dass die DDR nicht tot, sondern nur umgezogen ist. Sie wohnt jetzt zwischen Oberhausen und Herne.

Daran würde sich auch nichts ändern, wenn Norbert Lammert hier seinen Wunschtraum umsetzen würde: Mehr Start-ups, mehr High-Tech-Unternehmen können nicht Hunderttausende verlorene Jobs kompensieren, weil Hochtechnologie bekanntermaßen mit Niedrigstbeschäftigung auskommt. Nicht jede Stadt braucht ein Konzerthaus, aber würde es das Ruhrgebiet weiterbringen, wenn nur noch Essen eine Philharmonie hätte? Längst koordinieren Kommunen ihre Planung. Sie widerlegen damit Lammerts wohlfeile Kritik: Städteübergreifende Zusammenarbeit dreht die desolate Lage nicht, es moderiert sie höchstens.

Die Lage im Ruhrgebiet, insbesondere die marode Infrastruktur, ist auch deshalb so schlecht, weil die Politik ihre Finanzmittel 20 Jahre lang auf den Osten konzentriert hat. Die Lage im Osten ist auch deshalb besser, weil dort Kommunen Gelder aus dem Solidarpakt für andere Dinge als die vorgesehene Infrastruktur ausgeben - etwa für Löhne und Personal in der Verwaltung. Man könnte diese Budgettricks pfiffig nennen, wenn nicht die Ruhr-Städte die Dummen dabei wären. Sie müssen sich hoch verschulden, um Gelder in den Osten überweisen zu können. Und obwohl ihre Wirtschaftskraft mittlerweile hinter allen vergleichbaren Ost-Städten zurückfällt, bleiben Ruhr-Städte von der Förderung des Solidarpaktes ausgeschlossen.

Natürlich lässt sich streiten, ob die Steinkohle mit Milliarden subventioniert werden musste. Doch eine Förderung nach Himmelsrichtung gehört angesichts der wachsenden Ruhr-Misere auf den Prüfstand - nicht erst 2019, wenn der Solidarpakt mit dem Osten ausläuft. Aufbau West, jetzt!

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