Proteste nach der Russland-Wahl: Illusion der Demokratie

Es war ein grauer Tag, an dem die Veränderung begann, an einem Nachmittag im Herbst. Am 24. September dieses Jahres brachen viele Russen mit ihrer Staatsspitze, weil diese Staatsspitze ihr Vertrauen brach. Gehen nun, mitten im russischen Winter, die Knospen eines slawischen Frühlings auf?

Nein. Dafür sitzt der Schock nach der als gescheitert empfundenen Revolution in den 90er Jahren noch zu tief, Umstürze sind den Russen suspekt. Ihre Wünsche aber sind klar: politische Vielfalt, unternehmerische Freiheit, neue Gesichter an der Spitze des Staates.

Was sie bekommen, sind Dutzende gepanzerter Polizeiwagen, Zehntausende mit Schlagstöcken ausgestattete Polizisten, Hunderte Festnahmen, Verurteilungen. Und im Staatsfernsehen reden die Herrschenden von "Demokratie". Eine Illusion, seit Jahren schon.

Am 24. September ließen Präsident Dmitri Medwedew und Premier Wladimir Putin die Katze aus dem Sack: den Tausch ihrer Rollen, eine angeblich vor Jahren getroffene Entscheidung. Es war ein Schlag ins Gesicht der Russen, vor allem der jungen, der Mittelschicht, der Liberalen, die in Medwedew einen annehmbaren Hoffnungsträger sahen. Vorbei, nun endgültig.

Das Volk schlägt seit Tagen zurück, wehrt sich gegen die Arroganz des Kremls, stimmt, wenn es überhaupt zur Wahl geht, weniger für die Regierungspartei "Einiges Russland", filmt die Wahlfälschungen und fühlt sich im Protest bestätigt, weil das von der absoluten Macht besessene Tandem nervös reagiert.

Eine schwere politische Krise ist im Anmarsch auf Moskau, nur das Machtduo Putin/Medwedew stellt sich taub. Putin weist feige die Schuld Amerika zu, das angeblich die Proteste steuere, und fällt in alte sowjetische Denkmuster zurück.

Medwedew spricht in Prag vom desorientierten Volk und Protesten als Ausdruck von Demokratie. Wie wahr! Ja, das Volk hat sich bewegt, hat die Demokratie begriffen, viele sind aus der politischen Apathie erwacht. Der Kreml aber ist stehen geblieben und hat sich vor der ganzen Welt demonstrativ vom Funken eines Rechtsstaates verabschiedet.

Die Menschen mögen desorientiert sein, wie Medwedew das nennt, doch dafür ist die Regierung Medwedew/Putin verantwortlich, die selbstgefällig ihre Macht ausbaute, den Regionen die Selbstbestimmung nahm, die unternehmerische Freiheit und die politische Vielfalt immer mehr reduzierte.

Langsam aber kündigen die Russen den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag, in dem steht: "Wir mischen uns nicht in die Politik ein, solange ihr euch nicht in unser Privatleben einmischt." Ein großer Teil des Volkes hat verstanden, dass die Lügen des Staates ein enormer Eingriff in ihr Leben sind. Hetzt der Kreml weiter seine Spezialpolizei auf die Menge, produziert er - nicht der Westen - noch mehr Unzufriedene.

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