Kommentar Plan des EU-Kommissionspräsidenten: Junckers Zeichen

Jean-Claude Juncker hat Europa seine Würde zurückgegeben. Nach Wochen und Monaten des Streits zwischen Staats- und Regierungschefs, nach unfassbaren Bildern Tausender Kriegsopfer, die durch die EU irrten und von einem Land ins andere geschickt wurden, nach viel zu langem Schweigen der Unionsführung, war der Auftritt des Kommissionspräsidenten ein Zeichen: Diese Gemeinschaft steht zu ihrem Wort und zu ihren Werten.

Juncker hat Recht: Das ist nicht die Stunde für Rhetorik oder Lyrik, sondern für Taten. Genau das bleibt das Problem: Der Chef der Europäischen Kommission kann gute Ideen haben und einen flammenden Appell für die Aufnahme von Flüchtlingen halten - es sind leere Worte, wenn die Staats- und Regierungschefs nicht mitziehen. Und danach sieht es - zumindest bisher - aus. Was sich die Lenker etwa in Ungarn oder der Slowakei erlauben, widerspricht jedem Grundverständnis von Humanität und Menschenrecht. Es ist ein offener Verrat an der eigenen und der europäischen Geschichte.

Alles, was Juncker gestern sagte, wird sich daran messen lassen müssen, ob er die Chefs jener Länder überzeugen konnte, die sich bislang querstellen. Dabei ging der Kommissionspräsident einen eigenen Weg: Er bekannte sich zu den freiwilligen Helfern, den Münchner Studenten und den Dortmunder Bürgern, den Kölner Spendern und den Unterstützern in Berlin. "Sie sind Europa", lobte Juncker und machte zugleich klar, dass er ein Votum der Menschen erwartet, die Einfluss auf ihre eigenen Regierungen nehmen können, wenn sie nur zeigen, dass nicht Abgrenzung, sondern Öffnung das Credo dieser Union ist.

Das Programm der Kommission würde eine solche Willkommenskultur verdienen. Der neue Verteilschlüssel erscheint fair, die errechneten Aufnahmekontingente sind für die Mitgliedstaaten kein wirkliches Problem, zumal nicht in einer Situation, in der nicht nur Deutschland qualifizierte Arbeitnehmer ausgehen. Dieser Juncker-Plan ist mehr als nur eine Neuausrichtung der EU in Richtung eines Kontinentes, in dem Asyl als ein hohes Gut anerkannt wird. Er bedeutet zugleich eine Möglichkeit, die wachsenden Schwierigkeiten durch die demografischen Veränderungen in den Griff zu bekommen - zumindest dort, wo nicht die eigene Jugend auf der Straße steht. Zuwanderung als Chance, nicht als Risiko - ein politisch gewagter Kunstgriff. Aber ein hehrer Wechsel der Perspektive, Kriegsopfer nicht immer nur als Lasten zu verstehen.

Eine Gemeinschaft, in der montags kämpferische Bauern gegen eine Überproduktion bei Nahrungsmitteln gewaltbereit demonstrieren, sollte am Mittwoch ebenso kämpferisch ihr Bekenntnis gegen Terror, Krieg und Diktatur in die Tat umsetzen. Das bedeutet nicht weniger, als denen, die vor Bomben, Attacken und brutaler Gewalt geflohen sind, mit offenen Amen entgegenzutreten und sie willkommen zu heißen.

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