Kommentar Hartz IV: Armutszeugnis
Es gibt wieder Debatten um die Hartz-IV-Gesetzgebung. Nicht verwunderlich, denn die unter Gerhard Schröder angestoßene Reform war nie ein großer Wurf, sondern eine Dauerbaustelle - bis heute.
Die aktuelle Diskussion entzündet sich an der Forderung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, den Regelsatz auf 485 Euro anzuheben, was einer Erhöhung um 24 Prozent entspräche.
Diese ganzen Auseinandersetzungen sind emotional aufgeladen, fast so, als wenn hier Glaubensstreite geführt würden. Dabei hat leichtes Argumentieren, wer Hartz IV für eine Erfolgsgeschichte hält. Die deutsche Wirtschaft erlebt eine lange Aufschwungphase, die Arbeitslosenzahlen sind genauso signifikant gesunken, wie die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen ist. Lag das an Hartz IV - oder doch eher an den Segnungen der mit Wucht einsetzenden Globalisierung, die für eine exportorientierte Wirtschaft wie die deutsche ein Segen ist? Und an einer Art nicht von den Gewerkschaften, sondern der Wirtschaft vorgenommenen Arbeitszeitverkürzung in Form von Teil- und Leiharbeit, befristeten Verträgen und Billigbeschäftigung?
Nüchtern lässt sich feststellen, dass zehn Jahre nach der Reform immer noch sechs Millionen Menschen auf Hilfe durch Hartz IV angewiesen sind. Und es gibt weiterhin viel zu viele Dauerarbeitslose. Dabei war Hartz IV doch als der große Motivierungsschritt raus aus der Langzeitarbeitslosigkeit gedacht gewesen. Und noch eines: Mehr als 1,64 Millionen Kinder (Juli-Zahlen) sind auf Hartz IV angewiesen oder leben in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft.
Eine Erfolgsgeschichte liest sich anders. Dass unsere Gesellschaft immer weniger Kinder hat, die aber dann auch noch zu einem steigenden Anteil in Armut leben, ist für eine reiche Industriegesellschaft ein Armutszeugnis. Die Frage ist nur, ob man gut damit fährt, einem offenkundig fehlgesteuerten Unterstützungssystem einfach mehr Geld zuzuführen. Dieser Logik folgt der Vorschlag des Wohlfahrtsverbandes.
Stattdessen wäre es angezeigt zu fragen, warum sich Langzeitarbeitslosigkeit und Kinderarmut verfestigen. Da geht es weniger um höhere Leistungen als um bessere Strukturen. Andersherum wird ein Schuh draus: Während Milliardenbeträge in ein labyrinthisches Netz zahlreicher - selten auf ihren Nutzen hinterfragter - Sozialleistungen fließen, fehlt dem Staat das Geld, um Voraussetzungen zu schaffen, den Schaden gar nicht entstehen zu lassen: Dazu gehörte zuallererst die Schaffung eines flächendeckenden Ganztagsangebotes an Schulen, gerade um Kinder aus Problembezirken, aber auch Zuwanderer mit Sprachdefiziten besonders betreuen zu können. Dazu gehörte aber auch ein durchlässiges, nicht ausgrenzendes Schulsystem, genug Kitaplätze und eine - kommunale - Städtebaupolitik, die Brennpunkte gar nicht entstehen lässt.