Kommentar Große Koalition - Luft nach oben

Die große Koalition formiert sich, der Koalitionsvertrag steht, die Ministerien sind zum Teil neu geschnitten, die Personalentscheidungen getroffen. Es wird auch Zeit. Denn in den vergangenen drei Monaten hat sich die deutsche Spitzenpolitik fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Jetzt soll regiert werden. Eine erste Bilanz.

Zu den Parteien: Die SPD ist in ihrem Selbstfindungsprozess einen guten Schritt vorangekommen. Parteichef Sigmar Gabriel hat mit dem Mitgliederentscheid hoch gepokert und gewonnen. Allerdings darf dieser Entscheid keine Vorbildfunktion haben, denn er war allein der besonderen Situation einer gespaltenen und verunsicherten Partei geschuldet. Abgesehen davon, dass die repräsentative Demokratie ausgehöhlt wird, darf man weiterhin bezweifeln, dass es angemessen ist, wenn 257 000 Ja-Stimmen von SPD-Mitgliedern über die Zukunft eines Landes bestimmen. Wenn dies Schule macht und jede Partei vor wichtigen Entscheidungen ihre Basis befragen muss, herrscht Stillstand in Deutschland. Das kann keiner wollen.

Das Programm der Union heißt weiterhin Angela Merkel. Sie hat ihre Partei inhaltlich und personell massiv verändert und extrem auf sich zugeschnitten. Positiv formuliert: Die Partei ist offener und moderner geworden, alte Zöpfe sind abgeschnitten. Die CDU hat die Macht, will die Macht und schafft sich Optionen. Negativ formuliert: Die CDU ist austauschbar, geschliffen, sie steht für alles und jeden. Der Wirtschaftsflügel findet kein Gehör mehr, zu kritischen Worten fehlt vielen der Mut, auch der Parteinachwuchs ist weichgespült - übrigens anders als in der SPD.

[kein Linktext vorhanden]Zu den Personen: Die Union sortiert sich schon für die Zeit nach Angela Merkel. Die Entscheidung für die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen etwa ist fachlich abwegig, machtstrategisch entspricht sie aber der Linie Merkel. Wenn sich von der Leyen in diesem Amt profiliert, geht sie gestärkt in die nächste Bundestagswahl - als mögliche Merkel-Nachfolgerin. Andererseits gab es in der Geschichte so gut wie keinen Verteidigungsminister, der ohne Schrammen davonkam. Das könnte zum Merkel-Kalkül zählen. Zumal sie mit dem Schachzug ihren engen Vertrauten (und eigentlichen Wunschnachfolger?) Thomas de Maizière aus der Schusslinie nimmt. Ansonsten zeigt die Zusammensetzung des Kabinetts wie in vielen Legislaturperioden zuvor, dass Fachkompetenz nicht zwingend zum Anforderungsprofil von Ministern zählt.

In der SPD ist Sigmar Gabriel der neue, starke Mann der Sozialdemokratie. Er hat seit der Wahl sehr viel richtig gemacht, trotz des Wahldesasters einen Großteil der SPD-Themen durchgesetzt und sechs Ministerien gesichert. Mehr geht nicht. Zur Erinnerung: Die Union war am 22. September knapp an der absoluten Mehrheit vorbeigeschrammt. Dass Gabriel das ebenso bedeutende wie schwierige, um Energie erweiterte Wirtschaftsministerium übernimmt, ähnelt der Strategie Merkel/von der Leyen. Kann er sich durchsetzen, vor allem bei der Energiewende, ist er ein potenzieller Kanzlerkandidat 2017.

Zu den Inhalten: Die große Koalition ist nach links gerückt. Die SPD hatte mit dem Damoklesschwert Mitgliederentscheid genug Druckmittel, um Themen wie den Mindestlohn oder Renten-Lockerungen durchzusetzen. Die sozialdemokratisierte Union bedient ebenfalls Wünsche ihrer Klientel wie die Mütterrente. Das alles bringt Zusatzkosten von vielen Milliarden, das alles belastet künftige Generationen, das alles gefährdet im schlimmsten Fall die Wirtschaftskraft Deutschlands, weil Arbeit teurer wird.

[kein Linktext vorhanden]So manche Korrektur hin zu vermeintlicher Gerechtigkeit schafft zudem neue Ungerechtigkeit. Das gilt nicht nur für die Belastung folgender Generationen, sondern auch für die Belastung der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Entscheidungen, etwa zugunsten der Mütterrente oder der abschlagsfreien Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren, werden zum größten Teil von den Beitragszahlern bezahlt. Man mag die Rentenpläne aus gesellschaftlicher Sicht für notwendig und gerecht halten, dann müssen sie aber auch von der Gesellschaft über den Bundeszuschuss und mithin über Steuern bezahlt werden.

Die Bildung der großen Koalition unter Führung von Bundeskanzlerin Merkel folgt dem Mehrheitswillen der Wähler, die sich dadurch eine stabile Regierung erhoffen. Das ist ein enormer Vertrauensvorschuss. Jetzt muss geliefert werden. Der bisherige Verlauf lässt noch Luft nach oben.

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