Kommentar Ein Jahr Energiewende - Ohne Masterplan

Als vor einem Jahr nach einem - statistisch seltenen - Erdbeben der Stärke neun ein Monster-Tsunami Japans Küste und die Atomreaktoren Fukushimas überrollte, wurde nebenbei "Murphy's Gesetz" aktiviert, wonach alles, was schiefgehen kann, auch schiefgeht - bis hin zum Ausfall der Notstromaggregate und nicht passenden Anschlusskabeln für zügig herbeigeholte Ersatzgeräte.

Irgendwann war der Kühlkreislauf unterbrochen und starteten die Reaktoren ihr unkontrolliertes Eigenleben. Es folgten: Explosionen, Geigerzähler, regierungsamtliche Beschwichtigungsrhetorik.

Aber auch das: Der Fukushima-GAU entzündete rund um den Erdball neue ad-hoc-Atomdebatten. Sie spiegeln, dass auch das Vergessen des atomaren Restrisikos in die Kategorie der ungeschriebenen Gesetze menschlicher "Vernunft" gehört. Zwischen Tschernobyl im Jahr 1986 und Fukushima im Jahr 2011 liegen 25 Jahre.

Für die Risiko-Wahrnehmung ist das ein langer Zeitraum, für die beruhigende Faustformel "einmal in 10 000 Jahren" dagegen ein kurzer, beunruhigender Ereignisabstand. Das menschliche Hirn ist kaum geeignet, mit der statistischen Unwahrscheinlichkeit von Großrisiken rational umzugehen. Dies gilt ebenso für die Herausforderung, Endlagerstätten zu finden, die eine geologische Sicherheit für eine Million Jahre bieten.

Auch erschwert die Kernspaltung eine rationale politische Debatte. Letztere bleibt polarisiert: Für die einen bietet die Atomkraft die klimafreundliche Lösung aller Energieprobleme, die anderen können in ihr nur die Apokalypse sehen. Den Glaubenskrieg entschied in Deutschland denn auch eine Ethik-Kommission. Bis 2022 soll der Atomausstieg vollendet sein. Die Befürworter haben viele gute Argumente auf ihrer Seite, vor allem das, wonach die Sonne-Wind-Bio-Wasser-Energien eine wirtschaftliche Globalchance bieten, die zudem gesellschaftsverträglich ist. Aber ist die Energiewende so schnell auch machbar? Und geht sie zu Lasten des Klimaschutzes?

Schon wachsen in Deutschland Zweifel, ob das durch und durch bürokratisierte Land sich nicht selbst im Weg steht. Der Energiewende auf dem Papier im Zeitraffer steht deren Umsetzung in Zeitlupe gegenüber.

Wie kommt - zum Beispiel - die an Deutschlands Küsten produzierte Windenergie in den Süden? Es braucht 1800 Kilometer neue Höchstspannungstrassen, wovon seit 2009 erst ein Neuntel fertiggestellt ist.

Zwar gibt es nun ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz, aber keinen Masterplan. Sechs Bundesministerien kümmern sich, was Zeitverluste programmiert. Dazu Personalmangel bei Genehmigungsbehörden und einspruchsbereite Bürger.

Die Energiewende hat unterdessen Netzbetreibern an manchem Tag mit extremen Minusgraden den Schweiß auf die Stirn getrieben. Die Versorgung ist unsicherer geworden, ohne dass der Verbraucher vom hektischen Treiben hinter der Steckdose etwas gemerkt hat. Es ist eine alltägliche Erfahrung: Tolle Ideen gibt es zuhauf, doch meist scheitert es an der Umsetzung. Es scheint zudem, als sei die Schrittfolge vertauscht worden. Erst die Entscheidung, dann die Grundsatzdebatte.

Deshalb muss eine irrational getroffene Entscheidung aber nicht falsch sein.

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